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Golama Buddha und wir andern vor dem Nichts

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Ist der Buddhismus eine Religion?

In der unverwässerten Lehre Gotama Buddhas gibt es keinerlei religiöse Analogie zum abendländischen Christentum. Der reine Buddhismus kennt keinen göttlichen Schöpfer der Welt, keine Unsterblichkeit der Seele, keine unumstößlich wahre Offenbarung. Ein ewiges Leben nach dem Tode ersehnt der Buddhist nicht. Im Gegenteil. Für ihn ist Nichtsein besser als jede Form des Seins, und wäre es selbst die eines Gottes. Alles Sein ist Leiden, Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, Gewünschtes nicht zu erlangen, ist Leiden; kurz, das Haften am Dasein ist Leider!. Der Durst nach Sein, nach Werden, nach Macht führt zur Entstehung des Leidens. Nur die gänzliche Vernichtung dieses Durstes ist der Weg zur gänzlichen Aufhebung des Leidens, das heißt nach indischen Begriffen zum Ende aller Wiedergeburten — zum Nirwana. Auf diesem Wege hilft dem Buddhisten kein Gott in gnadenreichem Erbarmen. Der Mensch muß mit eigener Kraft durch bewußtes Aufgeben seines süßen Nichtwissens um das Sein und Abwendung von jeder Wunschbildung von Stufe zu Stufe sich dem Ziel nähern, bis er eines Tages intuitiv den Weltzusammenhang erkennt und dadurch zum „vollkommen Erwachten“, zum Buddha wird.

Der Buddhismus leugnet nicht nur die Unsterblichkeit der Seele, sondern auch die Existenz des Ich, der Persönlichkeit als solcher. In der Persönlichkeit ist nach buddhistischer Auffassung nicht eine unveränderliche Einheit verborgen. Sie gleicht vielmehr einem Strom, in dem immer neue Wassertropfen einander ab- lösen, um schließlich im Ozean zu verschwinden. Versteht man unter Religion die hingebende Verehrung eines regierenden Höchsten und eine von diesem ausgehende, das menschliche Streben lenkende Offenbarung, so ist der Buddhismus entschieden keine Religion — wenigstens nicht im abendländischen Sinne.

Gotama Buddha lebte (etwa 560—480) in einer Epoche allgemeinen Wohlstandes, glanzvoller äußerer Kultur und eines hochentwickelten Geisteslebens in seinem Lande. Der überreif gewordene Polytheismus aber mit seinem barbarischen Prunk und der Opfermystik der Brah- manen konnte den Wahrheitssuchern im Priester- und Kriegerstand nicht Wege noch Ziele mehr bieten. Die Skepsis, die Vorläuferin des Agnostizismus, hatte weite Kreise gezogen. Unverkennbar steckt denn auch in den Lehren Gotama Buddhas hinter dem indischen Kolorit eine Geisteshaltung, die in Indien so gut wie im Abendland am Ende alles Philo- sophierens steht: Gotama Buddha ist fest überzeugt von der Unmöglichkeit, das wahre Wesen der Dinge zu erkennen.

Erstaunlich ist die Übereinstimmung Buddhas mit seinem griechischen Zeitgenossen Heraklit (etwa 540 — 470), der die unauslöschliche Wahrheit von der Allunbeständigkeit unserer Welt erschaut hatte. Die vom Griechen Parme- rüdes (geh. etwa 510) gezogene Folgerung, daß es im ununterbrochenen Werden und Vergehen kein wahres Sein geben könne, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Der für die menschliche Eigenliebe so mörderische Gehalt dieses Gedankens schreckt ihn nicht im mindesten.

Im Klima des absoluten Verzichtes auf Erkenntnis gedeiht bei Gotama Buddha die Menschen- und Tierliebe, die Duldsamkeit, die Schonung des Lebens, die Wahrhaftigkeit unter Ablehnung aller Varianten des Subjektivismus, die zu seiner Zeit in den spekulativen Köpfen Indiens gegeistert haben.

Der Glaube an die Seelenwanderung und die Erlösung vom Geburtenkreislauf durch transzendierende Erkenntnis des Weltzusammenhangs war in Indien schon vor Gotama Buddha Gemeingut der Gebildeten wie der Ungebildeten. Er bildet die Basis der großen indischen Religionen und noch des Buddhismus. Während aber die anderen Heilslehren eine unveränderliche und unsterbliche Seele annehmen, leugnet dies der Buddhismus. Damit setzt er sich ersichtlich in logischen Widerspruch zur Seelenwanderungslehre, soferne man diese noch irgendwie gegenständlich auffaßt. Wie sich Gotama Buddha zu diesem Widerspruch gestellt hat, der ihm ja nicht entgangen sein konnte, wissen wir leider nicht. Vielleicht hat er den Wiedergeburten nur einen Schein von Dasein zugebilligt; vielleicht hatte er aber auch von dem Wandel aller Dinge eine mehr rationale, unserer Naturbetrachtung nähere Auffassung: Wie weit ist es denn auch vom Samsara der Inder, vom Umherwandeln in immer wechselnden Existenzen, zum Kreislauf der toten und lebenden Materie nach unserer Prägung, zur Metamorphose der Insekten, zum Generationswechsel, zu den Mutationen, zur Biocönose? Symbolik da wie dort.

Und schließlich die Lehre von den edlen vier Wahrheiten: vom Leiden, von der Entstehung des Leidens, von der Aufhebung des Leidens und vom Weg, der zu seiner Aufhebung führt. Sie führt uns in indischen Gleichnissen dort hin, wohin auch unsere Kenntnisse vom organischen Leben münden. Sie zeigen, daß das Walten der Natur im erbarmungslosen Kampf aller Lebewesen um ihre Existenz besteht, im Vernichten und Vernichtet werden, Leidbereiten und Leid- erduldenmüssen, im unerbittlichen Kreislauf, bis der Lebenswille irgendwo zum Stillstand kommt und das Leiden ein Ende nimmt.

Die Postulate jeglicher höheren Ordnung tragen Lebensverneinungen in sich: das Mitleid, die Gerechtigkeit, die Vertragstreue, die Verantwortung für andere, die Wahrhaftigkeit, die sexuellen Bindungen; kurz alles, was der christlichen Moral entspricht, aber auch die Menschenrechte der französisdien Konstitution von 1791. Vollkommen lebensbejahend ist nur der absolute Verbrecher.

Das ungeschminkte Gesicht der Lebensbejahung hat sich uns in zwei Weltkriegen gezeigt — und in zwei ungeheuerlichen Entgleisungen der Menschheit. Der entfesselte Lebenswille ist nicht von ungefähr über uns gekommen. Seine Gefährlichkeit wurde nicht erkannt, als er von zwei Seiten her den Tintenfässern entstieg. Es war eine Zeit, da die Federführenden wohlgeborgen im Schutz gutfunktionierender Rechtsstaaten unter menschenfreundlichen Zeitgenossen lebten. Ganz neue, durch und durch unbelastete Menschentypen wollten sie hervorbringen, jeder auf seine Art. Alles überlieferte sollte mit Verachtung über Bord fliegen. Das lebensverneinende Christentum wurde — ebenfalls von beiden Seiten — mit grimmiger Leidenschaftlichkeit verworfen.

Sie hatten sich nicht über Mangel an Nachbetern zu beklagen, aber ihre Ho- munculi sind den beiden Alchimisten gründlich mißlungen. Aus der Retorte für den lebensstarken, furios fröhlichen, großmütigen Übermenschen ist ein gröhlendes Kanonenfutter gekrochen; und aus der für den freien, freimütigen Edelproletarier im klassenlosen Staat die graue Wirtschaftseinheit in der trostlosesten aller Tret- und Phrasenmühlen. Sie waren keine hämischen Gesellen, unsere Alchimisten, sie glaubten an das, was sie kündeten. Aber sie waren verkrampfte Seelen, etwas abgründig Bitteres haftet allem an, was sie geschrieben haben, und nirgends findet sich ein Hauch von Liebe und menschlicher Wärme.

Die Verpflanzung des Buddhismus nach Europa ist wiederholt versucht worden; teilweise sogar mit geistvollen Transkriptionen, aber immer mit vollem Mißerfolg. Ein neuerlicher Versuch liefe auf eine Donquichotterie hinaus — eine indische Religion, die nicht mehr indisch und keine Religion wäre. Und an Donquichotterien haben wir wahrlich keinen Mangel.

Wir haben einen Anschauungsunterricht über die Folgen der Lebensbejahung genossen, wie noch keine Generation vor uns. Das Lehrgeld hat uns an den Bettelstab gebracht. Soll es vergeudet sein? Freilich, den Vielzuvielen, die an eine Erlösung durch noch mehr Automobile, Kühlschränke, Television, Umsatzziffern, Wirtschaftspläne, Geburtenüberschüsse und Kanonenfutter glauben, ist nicht zu helfen. Sie werden nicht einmal durch Atombomben zu kurieren sein. Aber vielleicht gewinnen doch wieder einmal die Weiseren die Oberhand, wenn die überragende Bedeutung des lebensverneinenden Denkens für das Wohlergehen des Menschengeschlechts erkannt wird, das auch den Kern jedes wahren Christentums bildet und noch in keinem Denkmal des Menschengeistes so vollendeten Ausdruck gefunden hat wie in der Bergpredigt.

Es bleibt manchmal nichts übrig, als das Selbstverständliche zu sagen: Der abendländische Mensch kann ohne denTrogst der Lehre Christi nicht froh werden. Seinem Arbeits- und Fortschrittstrieb liegt das absolut Verneinende nicht. Wenn man ihm rät, gewissermaßen das Kind mit dem Bad auszuschütten und dem Leiden zu entgehen, indem er alles Sein ablehnt, so gerät er in das Fahrwasser Schopenhauers, und seine Logik führt ihn in die Nähe des Selbstmordes.

In die Welt Gotama Buddhas werden wir uns nie voll einfühlen können; aber wem der Sinn für das Erhabene nicht verlorengegangen ist, der wird mit Ehrfurcht und Staunen zu dem vornehmen Mann aufblicken, der ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung so unerschrocken und kompromißlos die Lebensverneinung gefordert hat.

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