Roadmovie (Ein empfindsamer Mensch) - © iStock / atlantic-kid

„Gott bei uns! Eurasisch Riese aufgestanden!“

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Jáchim Topols fröhliche Apokalypse der Freiheit bis zum bitteren Ende.

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Jáchim Topols fröhliche Apokalypse der Freiheit bis zum bitteren Ende.

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Ferne Straßenbeleuchtung, das Kläffen eines Hundes, das Reiben eines Rockes an Zweigen. Ein Kind, der Erzähler, spürt bei seinem Gang mit dem Vater durch einen abendlichen Wald erstmals, „wie und warum im Universum alles vor sich geht“. An dieser einzigen romantischen Stelle des Romans fällt auch der Titel des Buches „Ein empfindsamer Mensch“: „All das vollzieht sich geruhsam, gedämpft, in den Waben der aufziehenden Nacht. Mit kaum bemerkbarem Knarzen, das nur ein wahrlich empfindsamer bis überempfindsamer Mensch mitbekommt.“

Ansonsten herrscht in Jáchym Topols fünfhundertseitigem Pandämonium tschechischer Befindlichkeit drei Jahrzehnte nach der samtenen Revolution tolldreistes Chaos, Weltuntergang. Dessen Figuren sind angesichts der Rabiatheit der Welt mehrheitlich mit dicker Haut gesegnet. Was bei Jáchym Topol (Jahrgang 1962) allerdings nicht weiter überrascht – Ekstasen und Exzesse aller Art sind die wichtigsten Ingredienzien eines jeden seiner bislang sechs Romane. Der Sohn eines Dramatikers und Dissidenten in Zeiten des Kommunismus war nicht nur selbst jüngster Unterzeichner der Charta 77, er bewegte sich auch als Lyriker, Texter diverser Punkbands und Zeitschriftenherausgeber immer abseits des Mainstreams in anarchistischer Opposition. Und so ist es denn auch kein Zufall, dass Prags angesehenster Schriftsteller der mittleren Generation jüngst durch einen Aufsatz von Václav Klaus besondere „Weihen“ erhielt: „Durfte der Autor Jáchym Topol diesen Roman schreiben?“, polemisierte der einstige Premierminister. Die Lektüre ist eine vergnüglich groteske, wenn auch streckenweise nicht ganz leichte Kost.

Roadmovie in 31 Kapiteln

Eine tschechische Schauspielerfamilie – Vater Mohrle, dessen Frau Sonja und zwei Kinder, von denen eines nicht spricht und das andere nicht wächst – wird von einem Shakespearefestival in England als „polnisches Ungeziefer“ vertrieben. Der Brexit kündigt sich gerade an. Wo noch vor wenigen Jahren osteuropäischer Underground erwünscht und gutes Geld zu verdienen war, sind heute andere Stars gefragt. Tschechen – das ist zu wenig Opfer und Exotik, räsoniert der Vater voller Sarkasmus.

Erste Station des weit nach Osteuropa führenden Roadmovies in einunddreißig Kapiteln, in dem bisweilen zeitgeschichtliche Daten genannt werden, ist Frankreich: „Die Froschfresser sind ernst geworden, findest du auch? Kein Wunder, nach Bataclan.“ Hinter derart pöbelnden Sprachmasken führt die Reise weiter nach Budapest, wo die Hippie-Familie auf den Flüchtlingsstrom aus Ägypten, Algerien, aus der Türkei und aus Syrien trifft. „Außerdem spielt uns der ethnische Aspekt der Sache auch nicht gerade in die Hände, um’s mal etwas schnippisch zu formulieren“, feixt der Hippie-Vater weiter. Allerdings ruft er sich sogleich selbst zur Ordnung: „… uns geht’s ja noch Gold im Vergleich! Leck mich doch!“ Östlichster Punkt der postkommunistischen Gauklerfahrt ist das ukrainisch-russische Grenzgebiet. Dort grölt ein nationalpatriotischer Gesprächspartner – der „Russe“ – gerade seine Hymne: „Nachdem das mechtigste Reich von Welt ohne einen Schuss mit Jeans und Kaugummi getauscht wurde“, werde man jetzt in „Ajwaristan“, auch „Noworossija“ genannt, einen „neuen Staat von Geist“ aufbauen. „Wolodja Putin, er endern alles! Ja, er unser Weg Ziel geben! Krieg von Religion und Geist! Und Gott bei uns! Eurasisch Riese aufgestanden!“

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