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Gott braucht Menschen

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Der Film „Dieu a besoin des hommes“ („Gott braucht Menschen“) hat auf der venezianischen Filmbiehnale einen der drei internationalen Preise davongetragen; für die künstlerische Beurteilung des Films scheint allerdings einsichtiger die Tatsache, daß die Kommunisten in der „Unätä“ triumphierten, in „Dieu a besoin des hommes“ endlich einmal einem antikirchliclien, antiklerikalen Film begegnet zu sein, und die Katholiken, das heißt das Internationale Katholische Filmbüro durch seine Jury, dem Film 'hren großen jährlichen Preis zuerkannten. Die Ambiance des Films ist durch diese Vorgeschichte ausgezeichnet charakterisiert: es handelt sich um ein Werk, Jessen Gewagtheit ein Teil seiner Größe ist. Katholiken können kaum davon absehen, es Avantgarde zu nennen; ich erinnere mich auch eines Gesprächs mit dem Regisseur Jean Delannoy und

Madeleine Robinson (eine der Hauptrollen), in dessen Verlauf verschiedentlich die katholischen „Existentialisten“ von Graham Greene, Georges Bernanos, Gabriel Marcel bis zu Gertrud von Le Fort zur Sprache kamen, also jene literarischen Strebungen, die nicht mehr einen wohl arrangierten Teil der Welt geben, sondern die Welt als Ganzes, als Kosmos und Schauplatz einer gewaltigen Auseinandersetzung zwischen den geistigen Mächten und Prinzipien. Die Kraft und die Herrlichkeit zeigt sich erst, wenn der Mensch bereits schaudernd in den Abgrund blickt.

Der Film ist die Geschichte des Sakri-stans Thomas Gourvennec, der sich die Funktionen des Priesters anmaßt, nachdem der richtige Priester, kümmernd über seine vergeblichen Ermahnungen zum Guten und Rechten, die Gemeinde von Sein verlassen hatr-Die Gemeinde zwingt ihn gewissermaßen, mit ihr das Credo zu singen. Und dann beginnen sich in Thomas selber Ehrgeiz, Bauernschläue und Rechnungssinn zu regen. Er blickt bald auf die Gemeinde von Sein als auf seine Gemeinde. Er bestellt einen neuen Küster für den Glöcknerdienst und bricht mit dem Mädchen, das ihn heiraten möchte. Noch sind ihm alle Gedanken an die Ausübung sakramentaler Funktionen fern; doch das Verlangen der Gemeinde treibt ihn immer weiter. Er soll Teufel austreiben; eine Kreißende (seine Schwägerin) will von ihm in ihrer Todesnot die Absolution. Sie vertraut ihm ihr Geheimnis: daß das Kind nicht von seinem Bruder, sondern von einem jungen zudringlichen Fischer sei. Er spricht von der Kanzel herunter. Ein Gequälter, der seine irre, wahnsinnige Mutter umgebracht hat, kommt zu ihm und will die Vergebung, die ihm Thomas verweigert: „Ich bin doch nicht der Priester.“ Doch das Teufelchen und das Mitleiden in Thomas locken ihn immer weiter auf die verderbliche Bahn: er übt bereits die Messe für nächsten Sonntag, während der Muttermörder das während eines schweren Sturmes beschädigte Kirchendach ausbessert. Und in diesem Augenblick, da sich Thomas am Höchsten vergreifen will, kommt der neue Priester an.

Hier bereitet sich auch äußerlich die Lösung vor; doch haben wir in dem bereits karg Erzählten alle jene Feinheiten zu beachten, die die beiden Drehbuchautoren, Jean Aurenche und Pierre Bost, dem- Roman des Henri Queffelec, „Le reeteur de l'tle de Sein“, folgend, dieser ersten Etappe ihrer Geschichte mitgaben. Le Bon Dieu est dans le detail. Noch selten hat dieses Wort eines Franzosen unmittelbarere Berechtigung gehabt als in diesem Film, in dem wir mit der Beachtung des Kleinen, Unsichtbaren alles gewinnen, wo wir mit Oberflächlichkeit vieles verlieren. Jede Schattierung, jede Nuancierung, jede Kleinigkeit der Darstellung, des Dialogs, der szenischen Handlungsführung zählt. Man hat zu sehen, wie Thomas immer Glöckner bleibt in seiner falschen priesterlichen Anmaßung, wie er zusammenzuckt, wenn die Glocken dilettantisch geläutet werden. Man hat zu sehen, wie die heiligen Zeichen der Sakramente leer, unerfüllt bleiben, ohne Mitteilung einer innern Gnade. Nie vergesse ich die Szene des Messelesens, dem jede geheimnisvolle, gnadenhafte Kommunikation abgeht, das, um ein hartes Wort zu gebrauchen, als eine theatralische Hauptprobe, als ein Mummenschanz erscheint nicht nach seiner andächtigen Darstellung, doch nach seiner geistigen Bedeutsamkeit, die null ist. Die auf den -ersten Blick schok-kierendste Bildfolge ist wohl die, wie der neue Priester die zum Messelesen bereitgestellten Hostien (die noch bloßes, unkonsekriertes Brot sind) aus dem Ziborium auf den Boden schüttet. Dann gehen sie hinaus: der Priester mit dem ganzen Fuß in die weißen Oblaten tretend, der Sakristan sorgfältig sie umgehend. Man mag die Härte des Priesters bedenken und dabei erkennen, daß dieses Handeln konsequent in der Linie des Films liegt.

Des neuen Priesters Schiff taucht am Horizont auf; es ist mit Gendarmen beladen, die ihn begleiten. Die Bevölkerung verhält sich feindlich und mißtrauisch, wenn auch bereits in manchem die Sehnsucht nach einem wirklichen Gottesmann durchzubrechen beginnt. Der Muttermörder, der die Gendarmen auf sich bezieht, erhängt sich im Estrich seines Hauses. Und Thomas stürzt sich in Verzweiflung über seinen bereits erkalteten Körper und murmelt die Worte der Absolution: doch widerhallt es förmlich von Leerheit und Unwirksamkeit. Der Priester, dem sich Thomas unterworfen hat, will diesen großen Sünder und Selbstmörder nicht christlich begraben. Er erscheint hart, brutal, aus der Fremde eingedrungen. Doch er wirft in die Diskussion: „Ich bin auch Bretone.“ Auch er ist aus dem Holz dieser Fischer geschnitzt, aus derselben Kümmerlichkeit und Armseligkeit geboren, doch unterschieden von ihnen durch sein Amt, das allein zählt. Ich bin der Auffassung, dieser Film hätte einen unverzeihlichen Fehler begangen, wenn er den neuen Priester auf eine unmittelbar eingängliche und ansprechende Art sympathisch gemacht hätte, mit einem lächelnden Gesicht in der bekannten Technik der l religiösen Revuefilme aus Hollywood. Auf einem sehr unorthodoxen Weg kommt der Film ohnä jede Zwängerei zur Orthodoxie des ka.holischen Priester-tums. Auf diese Lösunj ist bereits mehrmals im Film vorgedeutet worden. Auf direkte Weise in zahlreichen Worten Thomas' („Aber ich bir: ja gar nicht Priester“, „Ich beginne laigsam zu wissen, was das ist: ein Priesler“), auf indirekte Weise in der schönsten, szenisch trefflich formulierten Szene les Werkes: Im Sturm ist das Schindeldach der Kirche aufgerissen worden u:id der Regen hat die leeren Weihwasserbecken gefüllt. Pierre Fresnay, der Sukristan, steht vor dem Resultat dieser Geste des Himmels. Sinkt er in die Knie, weil er dem Himmel für diese reine Gabe dankbar ist? Nein — ein schmerzlihes, bitteres, verzweifeltes Lachen en:ringt sich seiner

Brust: nicht einmal das reine Geschenk des Himmels kann der segnenden Hand des Priesters entraten, damit aus dem Regenwasser Weihwasser werde. Und der neue Priester überzeugt die Gemeinde, die in religiöser Anarchie unterzugehen droht, nicht als Person, sondern kraft seines Amtes, kraft der ihm in seiner Weihe mitgeteilten Gewalt. Noch einmal lehnt sich zwar die Gemeinde gegen ihn auf; doch die Fischer wagen immerhin nicht, den Selbstmörder der Erde zu übergeben, sondern fahren mit der Flottille ihrer Boote auf das Meer hinaus und übergeben den Toten dem verzeihenden Wasser. Dann steigt die große Frage auf — und sie findet ihre Antwort in Thomas' Ruf: „Et maintenant on va essayer de se faire pardonner. Tout le monde ä la messe.“ („Nun gehen wir daran, um Verzeihung zu bitten. Alles in die Messe!“)

Von dem Vorwurf einer Tendenz ist dieses Werk geschützt durch seinen Anspruch, Kunst zu sein. „Was ich geben wollte“, sagte mir der Regisseur, „ist eine Erzählung von Menschen, die die Urchristen hätten sein können, eine Erzählung, die in sich, in ihren berichtenden Gesetzen ihre Erfüllung findet, von der These zur Antithese fortschreitend.“ Und Paul Graetz, der Produzent: „Der Film liegt auf der Linie, die ich mit meinen Filmen, der .Symphonie Pastorale', dem .Diable au corps', begonnen habe: Kampf gegen die heutige materialistische Welt durch die Errichtung der spirituellen Wertskala. In .Diable au corps' war es die Liebe, in ,Dieu a besoin des hommes' ist es das Bedürfnis einfacher Menschen nach Religion, in meinem zukünftigen ,Van - Gogh' - Film wird es das Streben nach Verständnis und Anerkennung sein.“ Es ist ein überkonfessionelles Werk, um auch diese Frage anzuschneiden: Protestanten (Drehbuchautoren, Regisseur, Hauptdarsteller) haben es nach dem Roman eines Katholiken gestaltet und das Katholische Filmbüro hat es anerkannt als eine Leistung, die ein schwieriges Thema mit Objektivität und andächtigem Eindringen in das Fühlen einfacher Menschen und ihrer Sehnsucht nach gottgebundenem Menschsein behandelt.

Mit Absicht habe ich bisher an diesem Film seine allgemeine Sinndeutung herausgestellt; es gilt nun, mit aller Eindringlichkeit festzustellen, daß Dieu a besoin des hommes“ als Kunstwerk im einzelnen, besonderen wurzelt und erst als symbolische Ausdrucksform ins Allgemeine zielt und wächst. Die Voraussetzung des Einzelfalles Thomas Gour-vennec bleibt das mystische Klima der Bretagne, das in alter Sprache Armor hieß: Land am Meer. Neben der kleinen Kirche in diesem auf unwirtliche Weise schönen Land stehen zwei Menhirs, sie selber längst der Landschaft einverleibt,

Zeugen einer grauen Vorzeit, Zeugen alter, heidnischer Religiosität und Zeugnis dafür, daß dieses Land immer dort lag, wo die Erde direkt in den Himmel oder in die Hölle führt. Klein ist die Insel Sein, bei Springflut und Sturmwetter mehrfach geteilt und überflutet. Die Bewohner bleiben ein Leben lang. Tief hangen die Regenwolken herein, und der Rauch brennender Tanghaufen steigt nicht fröhlich auf, sondern streicht quälerisch unter dem Himmel hin wie das Fanal eines verschmähten Opfers. Wir sind weit zurück in unserer Zeitrechnung, nicht nur die hundertfünfzig Jahre Kalenderzeit, nein: in der Geschichte des menschlichen Herzens vielleicht ein Jahrtausend, vielleicht auch zwei. Diese kümmerlichsten aller bretonischen Fischer, diese Menschen, die sich auf einer Kante des Landes gegen das Untergehen im Meere verteidigen, sind die Brüder der Urchristen, der ersten Verteidiger des Glaubens. Doch sie nähren sich nicht nur vom Fang der Fische, sondern locken auch mit trügerischen Strandfeuern die Schiffe auf trügerischen Grund. Es sind Piraten, die mit frecher und scheuer Hand zu nehmen glauben, was ihnen auch gehört.

Es bleibt das Wunder des französischen Films, einem solchen auf die elementarsten menschlichen Gesten reduzierten Thema mit dem Instrument seiner aufs höchste entwickelten Formsprache beizukommen. Ich habe bereits mehrfach des Drehbuchs von Aurenche und Bost (der heute vielleicht besten Drehbuchautoren Europas) Erwähnung getan: eine Leistung, die sowohl das kleinste Detail wie die pathetische Geste des Elementaren mit Ursprünglichkeit herausbildet. Jean Delannoy nützt mit seiner außerordentlich anpassungsreichen szenischen Sprache die Möglichkeiten, die Ihm diese beiden Mitarbeiter bereitlegen, fast vollständig aus; daß er sich mehrfach als filmischer Interpret von bekannten Literaten (Cocteau: „L'eternel retour“; Gide: „La Symphonie pastörale“; Sartre: „Les jeux sont faits“) hervorgetan hat, hilft ihm zur Bewältigung dieser Aufgabe, die in nichts als der Herausarbeitüng des bedeutsamen Details besteht. Die Schlußszenen auf dem Meer mit der Fischerflottille sind vom Poetischsten, was der französische Film in den letzten Jahren' hervorgebracht hat, und die Ausnützung der kirchlichen Räumlichkeiten, die Bildkomposition mit starkem Vordergrundserlebnis, ist auf technischem wie auf künstlerisch-visuellem Gebiet eine bewundernswerte Leistung. Die Interpreten“, vor allem Pierre Fresnay als Thomas, aber auch Daniel Gelin als Muttermörder und Madeleine Robinson als Thomas' Schwägerin, geben in einem Höchstmaß von Kultiviertheit des gestischen und mimischen Ausdrucks und der Identifikation mit dem Dargestellten runde Menschen, begreiflich in ihrem Handeln und doch Träger jenes unantastbaren Mysteriums, das allem großen Menschsein anhaftet.

Besonders am Herzen liegt mir aber folgende Schlußbemerkung: „Dieu a besoin des hommes“ ist ein religiöser Film, nicht nur wegen seiner Thematik, sondern auch wegen seiner szenischen Gebärde, die Himmel und Erde umgreift. Er ist eine Dichtung von dem elementarsten Bedürfnis des Menschen nach Religion und nach einem persönlichen Gott; er ist eine Rückführung der Religion auf ihr Wesentlichstes und Elementarstes: gottverantwortliches Menschsein. Und dem Film ist es ermöglicht, solches auf die Leinwand zu bringen, dank einer Landschaft, die in sich, will ich sagen, schon religiös ist, dank der Bretagne, die ich in manchem die Transzendenz Eun pas nennen möchte. Das sollte von diesem Film zu lernen sein: daß der religiöse Film, der durch jede Koketterie mit der Technik zuschanden wird, sein künstlerisches Ethos der Studiofremdheit zuerst und zuletzt in der Landschaft suchen soll — in jener ganz besonderen Landschaft, die in jedem Zug Schöpfung bleibt, unendlichkeitsbezögen ist. Nachdem ich alles gesehen habe, was man gemeinhin „religiösen“ Film nennt, bleiben mir ihrer künstlerischen und geistigen Bedeutsamkeit nach drei Werke unvergessen: das protestantische „Hirn-laspelat“ (Lindstroem - Sjoeberg), „Cielo sulla paluder“ (Genina) und „Dieu a besoin des hommes“ — drei Brückenbauer zwischen Gott und den Menschen, auch im landschaftlichen Gestus.

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