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Grazer Streiflichter

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„Die Provinz denkt etwas langsam“, sagt man spöttelnd und stellt ihr damit entgegen der Absicht ein gutes Zeugnis aus. Das Urteil garantiert zumindest eine gewisse Kontinuität des Zeitgeschehens, eine Evolution im Gegensatz zu den eruptiven Ausbrüchen im politischen und kulturellen Leben der Großstadt.

Daß das nicht das Ergebnis einer Überalterung der einstigen „Pensionistenstadt“ ist, zeigte der gelungene Verlauf des Jugendtages in Graz. Man versuche gar nicht, aus diesem Tag mit viel Tamtam etwas Großes zu machen. Man war sich und man ist sich in allen Lagern bewußt, daß. die Jugend noch nicht in Scharen und in heller Begeisterung zu den Verbänden strömt. Alles, was nach Organisation aussieht, erweckt das Mißtrauen des Jugendlichen, der die HJ-Zeit am eigenen Leib erfahren hat und vorher eine frei erwählte Gemeinschaft noch nicht kennenlernen konnte. Und es ist gut so. Sie soll wägen, sie soll prüfen, unsere Jugend! Sie soll sich frei und unbeeinflußt entscheiden! Das Ergebnis wird sich wohltuend von dem unterscheiden, was vor 1938 gewonnen, im Feuer der Bewährung aber wieder zerronnen war.

Es ist interessant, festzustellen, daß im Gegensatz zu dieser Akersschicht che Halboder beinahe Erwachsenen noch stark an ihren einstigen Organisationen hängen und die Erwadisenen ihre Kinder beinahe allgemein zur Teilnahme an der ihrer politischen Richtung gemäßen oder noch mehr an unpolitischen Jugendorganisationen ermuntern. Dies wird in den unteren Altersstufen erkennbar, die Neubelebung und Hoffnung der katholischen Kirche, aber auch der rührigen evangelischen Gemeinde sind.

Die trüben Wellen des an vergessen geglaubte Zeiten erinnernden Wiener Jugendtages schlugen nur schwach an die Ufer von Graz, wo sowohl der offizielle Rahmen als auch die Veranstaltungen, bei denen die Jugend unter sich blieb, in bester Harmonie verlief, obwohl eine Verkettung von Umständen ein Überwiegen der einen politischen Richtung zur Folge hatte. Die Gegensätze — ganz richtig auf klassebetonten Materialismus Und auf katholisch orientierten Idealismus reduziert — wurden ganz offen aufgezeigt, aber auch die Möglidikeit ihrer Überbrückung im gemeinsamen Ziel des bald tausendjährigen Vaterlandes eröffnet.

Charakteristisch ist die Stellung der verschiedenen Richtungen zu der Frage eines „Aufmarsche s“. Während sich die Linke ganz eindeutig für die Manifestation auf der Straße aussprach, wurde dies entschieden abgelehnt vom katholischen Jungvolk, das hier mehr noch als in Wien bewußt auf eine vereinsmäßige Erfassung verzichtet und beinahe zu ängstlich darauf bedacht ist, nicht mir sich von jeder Art politisdier Bindung freizuhalten, sondern auch alles meidet, was ihm irgendwie als von solcher beeinflußt ausgelegt werden könnte. Die österreichische Jugendbewegung rechnete vom Anfang an mit der in ihren Reihen schon immer und noch mehr als Reaktion auf die Nazizeit hervorgetretene Abneigung gegen „zackige Marschmusik“. Die aufblühende Pfadfinderbewegung wieder ließ in echt demokratischer Art ihren bereits im Prinzip sehr autonomen Gruppen die Freiheit des Entschlusses, was auch prompt die Absage eines Großteiles gegenüber einem Marsch durch die Straßen zur Folge hatte.

Die geistige Verjüngung der Stadt beweist nicht die — wie flüchtige Betrachter vielleicht anzunehmen geneigt sind — noch immer starke Frequenz von zerstreuenden Veranstaltungen, sondern das ernste Streben weiter Kreise nach neuer Erkenntnis und

geistiger Erneuerung. Nicht nur die aufwärts-' strebende geistig rege Arbeiterschaft von Graz, die das Angebot von belehrenden und weiterbildenden Schriften fast augenblicklich aufsaugt und gerade bildungserweiternde Bücher bevorzugt, sondern auch die „Intelligenz“ hat sich gleichsam wieder auf die Schulbank gesetzt. Steigenden Zuspruch und gewinnende Bedeutung erlangten die Veranstaltungen und Vortragsfolgen der Akademiker-Seel sorge, die zumeist von Dozenten der beiden Grazer Hochschulen getragen und von diesen sowie von der Mittelschullehrerschaft, aber auch von weiten Kreisen der Alt- und Jungakademiker anderer Fachrichtungen besucht sind. Diese Institution gewinnt immer weitere Kreise, mehr als durch die Vorträge^ selbst noch durch die lebhafte, fruchtbringende Diskussion in ihrem Anschluß. Thema dieser und ähnlicher Vorträge in Graz ist in zunehmendem Maße neben der religiösen, bewußt selbstkritischen Erneuerung die soziale Frage. Ausgangspunkt ist dabei erfreulicherweise nicht wie einstmals die bedauernde Feststellung der geistigen und materiellen Not — man kann beide heutzutage wohl gar nicht isoliert betrachten — in irgendeiner Gesellschaftsschichte und ein resignierendes Achselzucken darüber, sondern die Not hat sosehr vor keiner Berufs- oder Stand:sgruppe haltgemacht und das soziale Gewissen ist durch das tiefe Ericben der Religion so stark wadigerufen, daß tätiges Eingreifen allgemein erforderlich erscheint. Nicht mehr um standesgemäßes Leben dreht sich die Frage, das gehört in diesem Sinn glücklicherweise der Vergangenheit an, sondern um das Leben selbst, um das nackte Leben, um die Existenz. Es ist zu hoffen, daß mit der nächsten Schneeschmelze auch das letzte übriggebliebene Häufchen derjenigen zusammenschmilzt, die einen Stand, eine -politische Partei oder gar eine Weltanschauung nicht um dieser selbst, um deren richtiger Zielsetzung, um deren aufbauender Werte ver-

treten, sondern diese nur als S i c h e r u n g. elnrichtung ihres wirklichen oder vermeintlichen geistigen oder materiellen Besitze betrachten und die deshalb nicht zur Stärkung dieser Richtung beitragen, sondern sie nur belasten.

Die Rektoren derbeiden Grazer Hochschulen gehen in der geistigen Entwicklung beispielgebend fördernd und aktiv voran und zeigen damit, daß man nicht durch abwartendes Zurückhalten eine Gefahr übersteht; durch tätiges Eingreifen in das Räderwerk der Zeit schafft man eine Grundlage, auf der Mißverstehen und Zerwürfnisse möglichst fremd sind.

Der Boden von Graz ist bereits weitgehend e n t g i f t e t. Es gibt Gegensätze zwischen den politischen Lagern; diese sind aber wirklich demokratischem Denken nur fördernd; sie lassen den Willen der Allgemeinheit im Eingehen auf die Argumente des Gegners oder im entgegenkommenden Ausgleich herauskristallisieren.

Wie den sozialen Erneuerungsversuchen bedeutender Vertreter der Mitte von links die Anerkennung nicht versagt wird, so wurde auch beispielsweise dem großen Überblick österreichischer Geschichte Ernst Fischers anläßlich der 950-Jahr-Feiern in allen Kreisen bereitwilligst Beifall gezollt, ja sogar in manchen Punkten Zustimmung zuteil.

Ist es nicht auch ein begrüßenswerter Fortschritt, wenn man hier vorbildlich vorangeht und,dem manuellen Arbeiter zeigen will, daß man auch durch Arbeit sein Brot verdient und ein Großteil der geistig arbeitenden Grazer mit redlidiem Willen dem Arbeiter im Gewerkschaftsbund die Bruderhand reicht?

Heute ist es anders als einst im „Mazedonien Österreichs“, da man nur sein besonderes Leibblatt las und seinen Blick über die Mauern des engsten Lokalpatriotismus nicht heben konnte. Man liest mit Interesse die, Zeitungen Wiens und der anderen Zonen und man bevorzugt d i e eigenen Zeitschriften, die über die Enge der steirischen Heimat und der unmittelbarsten Zeitgebundenheit emporragen und mit weltoffenem Blick und in Einordnung in die Bedürfnisse ganz öster-. reichs ihren wirtschaftlichen Weg verfechten oder die Kultur der ganzen Welt einfangen, sondern aus den Kräften und Anlagen des. eigenen Bodens heraus neu schaffen wollen. Ein Beispiel dazu ist die „Austria“ der Steirischen Verlagsanstait.

Der Grazer ist durch die letzten Jahre hellsichtig geworden. Er hat erkannt, daß % Einordnung in das Gesamtwerk und verhältnismäßig weitgehende zentrale Lenkung auf wirtschaftlichem Gebiet von Vorteil ist. Er verlangt aber auch, daß diese Lenkung im Sinn und im Interesse aller ist. Auf kulturellem Gebiet ist es aber immer von mehr Erfolg gekrönt, wenn man den örtlich spezifischen Kräften freie Entwicklungsmöglichkeit gibt. Daß alles auf den gleichen Grundton abgestimmt ist und miteinander harmoniert, dafür sorgt schon die Kraft der gemeinsamen Heimat und die Liebe zu ihr. Unser aller Heimat ist Österreich. Und in keiner Weise ist vom Körpermaß oder von der Kopfzahl die Größe und die Tiefe der Liebe zu ihr abhängig.

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