Grazia Deledda  - © Foto: Getty Images / Mondadori

Grazia Deledda: Disteln aus Sardinien

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Vor 150 Jahren geboren, vor 85 Jahren gestorben: Die italienische Erzählerin und Nobelpreisträgerin Grazia Deledda setzte ihrer archaisch geprägten Heimat Sardinien ein literarisches Denkmal.

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Vor 150 Jahren geboren, vor 85 Jahren gestorben: Die italienische Erzählerin und Nobelpreisträgerin Grazia Deledda setzte ihrer archaisch geprägten Heimat Sardinien ein literarisches Denkmal.

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L iterarisch unentdeckt war Sardinien, ehe Grazia Deledda zu schreiben begann. Die Pioniertat, ihre heimatliche Insel mit erfundenen und gefundenen Geschichten zu erschließen, hat die Autodidaktin über Jahre gleichsam im Alleingang vollbracht. Die Krönung für ihr vielbändiges Erzählwerk kam 1926 aus Stockholm: Als zweiter Frau nach der Schwedin Selma Lagerlöf wurde ihr der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.

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Bereits als frühreifes Mädchen hatte die Tochter einer wohlhabenden Anwaltsfamilie aus der sardischen Stadt Nuoro Gedichte und Erzählungen verfasst, die umgehend in lokalen Zeitungen und Zeitschriften publiziert wurden. 1890 ließ sie ihren ersten Roman „Stella d’Oriente“, noch unter Pseudonym, nachfolgen. Da war die vor 150 Jahren, am 27. September 1871, geborene Autorin immer noch erst 19 Jahre alt.

In den archaisch geprägten Dörfern der Barbàgia, der rauen Hochebene nahe ihrer Heimatstadt Nuoro, fand sie den Stoff für viele ihrer Romane. Dort spukten noch immer Geister- und Aberglaube, waren heidnische Kulte wie auch animistische Rituale uneingeschränkt im Umlauf. Äußerlich freilich war der Jahreslauf auf der Insel vollends vom christlichen Kalender und seinen vielen Heiligenfesten bestimmt.

Shakespeare’sche Schwere

Dieser Jahreskranz der wechselnden Feiertage samt den dazugehörigen Zeremonien und Prozessionen bestimmt auch den äußeren Ablauf des dramatischen Geschehens, das sich in Deleddas Meisterroman „Schilf im Wind“ rund um das abgewirtschaftete Landgut der verarmten Schwestern Pintor verhängnisvoll zusammenballt.

Einst waren die drei adligen Schwestern Esther, Ruth und Noemi wohlhabend und angesehen. Doch längst können sie ihrem umsichtigen Knecht und Gutsverwalter Efix keinen Lohn mehr zahlen. Vielmehr sind sie vollständig auf seine Treue und Loyalität angewiesen, die seit mehr als dreißig Jahren anhält und mit einem Ereignis zusammenhängt, das von den drei Schwestern eisern mit Schweigen belegt wird.

Denn es gab eine vierte Schwester namens Lia, die als Mädchen mit Hilfe von Efix dem tyrannischen Regime des Vaters aufs Festland entflohen war. Dort hatte sie geheiratet und einen Sohn geboren, ehe sie früh verstarb. Dieser mittlerweile erwachsene Sohn, Don Giacinto, kündet nun seine Ankunft im Dorf an. Sogleich erwachen vor allem in Efix neue Hoffnungen, er könnte das heruntergekommene Anwesen und die verstörten Tanten wieder aufrichten. Die sind freilich, aus Starrsinn und falschem Adelsstolz, ganz auf Abwehr eingestellt.

Als Giacinto eintrifft, weiß er voll Selbstvertrauen und Anmut aufzutreten, was vor allem die Mädchen des Dorfs beeindruckt. Aber recht bald zeigt sich: Der junge Mann ist eine Enttäuschung. Er ist unzuverlässig, spielsüchtig, vergreift sich an fremdem Geld. Auf dem Festland hat er sich zu einem Betrug an einem Reeder hinreißen lassen und kam nur dank dessen Güte straffrei davon. Als er sich im Dorf mit gefälschter Unterschrift abermals Geld verschafft, muss er fliehen.

Es sind die elementaren Probleme von Menschen im Kampf mit ihren Leidenschaften und der Natur, die Deledda ins Zentrum ihrer Werke stellte.

Durch sein früheres Eingreifen in das Schicksal der Schwestern fühlt sich Efix mitschuldig am Zerfall der Familie. Eine verdrängte Tat in der Vergangenheit verleiht dem Geschehen eine Shakespeare’sche Schwere. „Wir sind das Schilf, und das Schicksal ist der Wind“, sinniert Efix, der dienstbare Geist, den seine Gewissensnot eine Zeitlang wie einen Büßer im Gefolge von Bettlern übers Land treibt.

Melancholische Schönheit

Berückend einprägsam sind Deleddas anschauliche Naturschilderungen. In dem Roman wird ein Sardinien voll naturmagisch beseelter Landschaft und agrarisch beherrschter Vegetation beschworen, mit Pfirsichund Mandelbäumen, blühenden Feldern und saatgrünen Wiesen, aber auch mit windigen Hügeln und kargen Felsformationen. Das Anwesen der Pintor-Schwestern etwa liegt in einer Gegend „von melancholischer Schönheit: mit der sandigen Ebene, durch die sich der Fluss hinzog, den Reihen von Pappeln und niedrigen Erlen und den Inseln aus Binsen und Wolfsmilch, mit der dunklen, von Brombeergestrüpp umrankten Basilika, dem alten, von Gras überwucherten Friedhof, wo inmitten des Grüns gleich weißen Margeriten die Gebeine der Toten leuchteten. Die Vergangenheit herrschte immer noch über diese Gegend.“

Auch das Leben der Menschen auf der Insel ist in Deleddas Epos noch immer von althergebrachten Haltungen und Gebräuchen bestimmt. Insbesondere die Frauen sehen sich unter den patriarchalen Verhältnissen einer spätfeudalen Gesellschaftsordnung noch ausschließlich auf das Rollenbild der Hausfrau und Mutter festgelegt. Unter der Despotie ihres Vaters blieben die Pintor-Schwestern „wie Sklavinnen gefangen, mussten wie Sklavinnen arbeiten“.

„Vor allem durften sie nie den Blick in Gegenwart der Männer heben, noch war es ihnen gestattet, auch nur an einen Mann zu denken, der nicht zu ihrem Bräutigam auserkoren war. Doch die Jahre vergingen, und der Bräutigam kam nicht.“ Was Deledda hier aus eigenem Erleben über ihr Sardinien vor mehr als einem Jahrhundert berichtet, ist heute für junge Frauen in strenggläubigen islamischen Familien noch immer Realität.

Der Roman „Schilf im Wind“, 1913 erschienen, wurde vom Nobelpreiskomitee als Deleddas Hauptwerk hervorgehoben. In ihrer Begründung lobte die Jury damals Deleddas „von hohem Idealismus getragene Verfasserschaft, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben auf ihrer heimatlichen Insel schildert und allgemeinmenschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt.“

Es sind die elementaren Probleme von Menschen im Kampf mit ihren Leidenschaften und mit der Natur, die Deledda ins Zentrum ihrer mehr als dreißig Erzählwerke stellte. Dabei meistern es oft Frauen, unbeirrt von Ängsten und Konventionen, ihren Weg ins Freie zu suchen. Ins wilde Bergland der sardischen Barbàgia führt denn auch Deleddas wohl bekanntester Roman „Marianna Sirca“. Darin kämpft eine willensstarke Frau, die durch ein Erbe wohlhabend geworden ist, gegen den Widerstand ihrer ganzen Gemeinschaft um ihr Liebesglück, das sie in Gestalt des in den Wäldern streunenden Briganten Simone Sole gefunden zu haben meint. „Wenn du auf mich wartest, Marianna Sirca, werde ich dein Mann sein“, verheißt der Outlaw der jungen Frau. Doch auf Mariannas Ansinnen, er möge sich stellen, ehe sie sich vermählen können, antwortet der Bandit aus den Bergen: „Alles ist besser, als die Freiheit zu verlieren.“

Kraftvolle Naturbilder

So nimmt ein Liebesdrama seinen Lauf, dessen elementare Wucht sich auch in Deleddas kraftvollen Naturbildern, etwa eines Gewitters, abbildet: „Der Regen prasselte jetzt, er war wie ein Schleier aus Stahlfäden, der sich im Wind bauschte. Schrill und verzerrt stürzte er sich auf die wie von Angst geschüttelten Sträucher und Bäume. Auf der Lichtung wandten sich die jahrhundertealten Eichen im Netz des Regens wie riesige Spinnen in ihrem Netzgespinst. Über den Himmel züngelten Feuerschlangen, jagten vom Wind getriebene Wolkenungeheuer, und auch der Regen schien zu rasen auf der Flucht in die Ferne, nach allen Richtungen, über die eigene Gewalt entsetzt. Alles, was sich nicht von der Erde zu lösen vermochte, die nassen, fahlschimmernden Steine, das Gebüsch, das sturmgeschüttelte Gras, alles, was an der allgemeinen Flucht nicht teilnehmen konnte, krümmte sich in einem verzweifelten Krampf.“

In Rom, wohin Grazia Deledda 1900 nach ihrer Ehe mit einem höheren Finanzbeamten gezogen war, schrieb sie die meisten ihrer Werke. Dort starb sie auch, am 15. August 1936, nach langer Krebskrankheit. Das Grab von „La Deledda“, wie sie in Sardinien verehrungsvoll genannt wird, liegt am Fuß des Berges Ortobene, unweit ihrer Geburtsstadt Nuoro.

Schilf im Wind Deledda - © Foto: Manesse
© Foto: Manesse
Literatur

Schilf im Wind

Roman von Grazia Deledda
Aus dem Ital. von Bruno Goetz
Manesse 2021 438 S., geb., € 25,90

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