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Grenzen der Vernunft

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Liebe ohne Liebe. Roman von Stanislas d'Otremont. Uebersetzt von Siegfried Lang. Verlag Jakob Hegner, Köln. 249 Seiten. Preis 14.80 DM. — Meine Augen können ihn nicht sehen. Roman von Alfred Cheller. Uebersetzt von Curt Meyer-CIason. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 264 Seiten. Preis 14.80 DM

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Liebe ohne Liebe. Roman von Stanislas d'Otremont. Uebersetzt von Siegfried Lang. Verlag Jakob Hegner, Köln. 249 Seiten. Preis 14.80 DM. — Meine Augen können ihn nicht sehen. Roman von Alfred Cheller. Uebersetzt von Curt Meyer-CIason. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 264 Seiten. Preis 14.80 DM

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Wie schon in seinem Roman „Thomas Quercy“, geht es d'Otremont auch in dem neuen Buch „Liebe ohne Liebe“ (der französische Titel heißt „L'amour deraisonable“) darum, der Welt der reinen Vernunft die der wahren Wirklichkeiten gegenüberzustellen, die, im Uebersinnlichen wurzelnd, in der irdischen Existenz transparent und gelebt werden sollen. Einen breiten Raum des Romans nimmt die Lebensgeschichte des Charles Segre ein, die dieser, vor entscheidenden Entschlüssen stehend, für seinen früheren Vormund, den Maler Faubert, aufzeichnet. Seine Bekenntnisse spiegeln die Weltanschauung eines jungen Menschen unserer Zeit,- dem, alle Werte fragwürdig geworden sind-und- der,---geradezu naivem Egoismus'befangen, immer nur sich selbst sieht und ausleben will. Diese Haltung kommt besonders drastisch in seinen Beziehungen zu Frauen zum Ausdruck, die er beliebig auswechseln zu dürfen glaubt Derartige Entschlüsse rechtfertigt er dann mit seiner geistigen Berufung und verworrenen Gefühlen, die er Liebe nennt. In Faubert nun findet Charles einen schonungslosen Kritiker seiner unaufrichtigen und unausgegorenen Beichte, der ihm, von der Ebene der gläubigen Menschen sprechend, die Grenzen rein rationaler Erkenntnis klarzumachen versucht. Genau so, wie der Mensch aufgerufen sei, sich den metaphysischen Fragen zu stellen, meint Faubert, gelte es auch, die zeitlich gebundenen Wirklichkeiten zu bewältigen. Das heißt im konkreten Fall des Charles Segri Ehe und Liebe ernst zu nehmen, mit denen er bisher nur gespielt habe.

„Dm hast nie jemand geliebt. Du liebkosest dich in einer Frau und sagst: ,lch liebkose und liebe sie, dich suchst du in der Frau; in der Berührung mit ihr genießest du dich. Du bist es, den du liebst vom Anfang bis zum Ende dieses Heftes. .. Liebe, das ist kein, pronominales Verb, es ist ein Tätigkeitswort, mein Jungel ... Ein Ehemann ist keiner, der hier und da kosten, sondern einer, der bilden soll. Aber das alles, nicht wahr, liegt der vernünftelnden Vernunft von Herrn Charles Segre oder der Erklärung der Worte ,Liebe' und ,Ehe' im Wörterbuch sehr fern ...“

Charles ist ehrlich genug, sich mit diesen Argumenten ernsthaft auseinanderzusetzen. Das, und ein unerwartetes Ereignis, das ihm seine Frau im neuen Licht zeigt, helfen ihm, sein Leben mit ihr, die er verlassen wollte, unter besseren Voraussetzungen noch einmal zu beginnen.

„Ich begann eine Tragödie zu schreiben an dem Tag, da ich Sylvie geheiratet habe, ohne sie zu lieben. Es ist nicht nur gerecht, daß ich sie fortsetze und zu Ende lebe, diese Tragödie. Denn könnte der Mensch beliebig, was er knüpft, wieder lösen, dann würde die Unordnung bis zu den Quellen des Lebens vordringen... Faubert hat mir gesagt: die wahre Liebe ist die.. . die man nicht erleidet, sondern gestaltet... mit Mühe, m Verlauf einer lanVfem selhst liegt, bei dem man sich gleichgültig wird, sei die einzige Liebe, die ihren Sinn erfüllt. Und die einzige, die ein echtes Glück gewährt, als sei das Glück K etwas über unsere Zuständlichkeit Erhabenes ...“

Seine Fragen nach dem Sinn des Lebens und den Aufgaben des Menschen in der Zeit stellt d'Otremont mit einer in der modernen Literatur selten gewordenen Unbedingtheit und Sicherheit, der sein klarer, ausgewogener Stil völlig entspricht. Die deutsche Uebersetzung seines Werkes ist ausgezeichnet. Der Autor darf auf Resonanz hoffen auch bei Lesern, die weltanschaulich auf anderem Boden stehen als er.

Erstaunlich ähnliche Probleme, wenn auch von einem anderen Blickpunkt gesehen und mit sehr verschiedenen Stilmitteln, schneidet Alfred Chester an in seinem Roman „Meine Augen können ihn nicht sehen“. Der junge amerikanische Autor erzählt die Geschichte eines Mannes, Harry Sutton, dessen Leben sich in den äußeren Geschehnissen erschöpft, und selbst diese kommen nicht völlig an ihn heran, geschweige, daß er an metaphysische Phänomene glaubte. Bis plötzlich eine seltsame, rational nicht erklärbare Situation eintritt: Er, für den nur das Sichtbare, Greifbare zählte, kann eines Tages ein wirkliches Phänomen nicht sehen — einen Toten, an dem er durch Gleichgültigkeit schuldig geworden ist, kann er mit seinen Augen nicht sehen. Harry erfährt in diesem Ereignis die Unzulänglichkeit der allein auf der Vernunft basierenden Lebenseinstellung. Er, für den nur das Handgreifliche Gültigkeit hatte, schwebt, nachdem sich sogar das Sichtbare ihm entzieht, im Leeren, verzweifelt und ausgeliefert. Aber diese tiefe Erschütterung löst auch seine innere Erstarrung. Nun vermag er zum erstenmal eine echte menschliche Beziehung herzustellen zu seiner Gefährtin Tess, deren Glauben an ihn und deren warmherzige Liebe ihm helfen, daß er Jamie, den Toten wieder sehen kann. Diese Erfahrung schenkt ihm eine neue Sicherheit, eine neue lebendige Wirklichkeit.

Chester sieht den positiven Ausweg für den sich in einer falschen Wirklichkeit der Dinge verlierenden Menschen unserer Zeit also in einer echten, verpflichtenden mitmenschlichen Begegnung und in dem Griff in Sphären, die jenseits der Vernunft liegen. Er gestaltet diese Erfahrungen und Einsichten einstweilen in der Form des Versuchs. Sein Realismus im Stil Hemingways steht unvermittelt neben den metaphysischen Aspekten, die ihn faszinieren. Aber jedenfalls weiß dieser sehr begabte junge Amerikaner nicht nur, woran unsere Welt krankt; er ist auch auf dem Wege zu den echten Heilmitteln.

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