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Grönland klopft an Europas Tür

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Um den Eskimo von heute, mindestens die Elite der jüngeren, fortschrittlichen Generation, kennenzulernen, ist keine Expedition erforderlich. In Kopenhagen befindet sich da Heim der grönländischen Kolonie. Zu bestimmten großen Anlässen — Weihnachten, Neujahr, Ostern, Pfingsten und anderen kirchlichen und Nationalfeiertagen — versammeln sich dort alle im kleinen Dänemark lebenden Grönländer, etwa 100.

Die Straßenbahn bringt uns bis zum Rande der dänischen Hauptstadt. Dann müssen wir noch etwa 15 Minuten durch ein Straßenlabyrinth laufen, bis das Ziel erreicht ist. Glücklicherweise geschieht das aber in ortskundiger Gesellschaft. Schon der Straßenbahnwagen war angefüllt mit jungen Menschen, deren dunkle Haarfarbe auffiel. Tiefliegende, etwas mongolisch wirkende Augen einzelner ließ auch nicht gerade auf eine skandinavische Heimat schließen. Die Damen tragen wertvolle Pelze aus Seehundsfell. Noch auffallender sind ihre Umhängtaschen. Gleichfalls in Seehundsfell haben sie eine eigene Note durch gestickte, vielfarbige Ornamente — Meisterwerke primitiver Volkskunst. Ohne zu fragen, schlagen wir den gleichen Weg ein. Es kann sich einfach nur um Eskimos handeln, um Gäste der gleichen Gesellschaft, zu der man auch un einlud. Mit etlichen englischen und deutschen Brocken läßt sich die Konversation leicht hersteilen. Jeder begegnet uns zutraulich. Eigentlich sind wir befangener als die Grönländer.

Das Grönländer-Heim ist ein schönes Steinhaus, von einem großen Garten umgeben. Etliche Kajaks harren wärmerer Tage und weisen auf unmittelbare Meeresnähe hin. Die Augen meines Nachbarn — 1,80 groß und Student einer Schiffsbauschule — leuchten auf: „Kajak ist unser Lieblingssport.“ — „Dann nehmen Sie doch sicherlich an den Kopenhagener Wettrennen teil?“ erkundige ich mich. Beinahe entrüstet wehrt er ab: „Das wäre unfair und unsportlich. Schließlich müßten wir ja siegen.“

Im großen Gesellschaftsraum — durch öffnen der Flügeltüren wurde er zum Saal — sitzen die in Dänemark lebenden Söhne und Töchter Grönlands unter bunten Papiergirlanden. Mein erster Eindruck wird bestätigt. Sie sind durch und durch europäisiert, wohlerzogen, heiter, gesprächig und gastfreundlich. Man lacht gern und viel. Jenes „typisierte“ Lächeln aber, das wir in Eskimofilmen sahen, fehlt, zumindest hier.

Man sitzt Hand in Hand. Ein junger Grönländer am Klavier —, meisterhaft spielt sein Begleiter die Ziehharmonika.

Das Heim — so erfahre ich — existiert bereits seit 1890, nachdem zwei Jahrzehnte zuvor ein anderes, später aufgelöstes, eröffnet worden war. Hier finden junge Menschen, die einen Beruf erlernen, kostenfreie Aufnahme.

Ein Taschengeld soll ihnen Kopenhagens kleine Freuden zugänglich machen. Grundsätzlich kann jeder Grönländer nach Dänemark. Da die Überfahrt jedoch sehr teuer ist, läßt sich da schwer aus eigenen Mitteln bestreiten. Jugendliche, die vom Gouverneur und dem Schuldirektor ausgewählt werden, um sich hier zu vervollkommnen, reisen auf Kosten der Grönland Styrelse. Auch ihr Studium und der Aufenthalt in den verschiedenen Internaten wird von der gleichen Stelle bezahlt. Grönland Hjemmet beherbergt nämlich nur 14, gegenwärtig sind es 12 Jungen und 2 Mädchen. Seine Hauptmission ist und bleibt die des gesellschaftlichen Sammelpunktes.

Erfrischungen werden aufgetragen: Kaffee, belegte Brötchen und Torte. Ganz selbstverständlich hantieren die Gäste des Hauses mit Löffeln, Gabeln und Messern. Unwillkürlich erinnere ich mich an eine Ras- mussensdie Schilderung. Da verschlang ein Grönländer Riesenbissen Fleisch und zerschnitt sie haarscharf an den Lippen vorbei.

Als hätte sie meine Gedanken erraten, lächelt die Gattin des Direktors: „Ich möchte Ihnen eine überlieferte Begebenheit erzählen: 1721 kam der dänische Pastor Hans Egede nach Grönland, um es neu zu entdecken. Er wollte dort noch die Nachkommen der ursprünglichen Nordländer finden. Zu seinem Leidwesen waren keine Wikingerspuren zurückgeblieben. So bekehrte er die Grönländer, die noch an viele Götter glaubten, zum Christentum. Seit dieser Zeit müssen sich auch reichste Jäger, denen vorher Vielweiberei gestattet war, mit einer Frau begnügen. 1727 kehrte Hans Egede, begleitet von zwei Grönländern, nach Kopenhagen zurück. Mit einem Kanu fuhren 6ie rund um das Schloß, von Tausenden bewundert, als große Propaganda für die neue Kolonie. Unser König, ein jovialer und humorvoller Herr, lud sie zum Festmahl ein. Aller Augen waren auf die zwei .Wilden vom Norden’ gerichtet. Es gab Hummer. Eine Sekunde blickten die beiden um sich. Dann hantierten sie damit so geschickt wie die Muštre Hofgesellschaft. Auch bei den übrigen Gängen unterschieden sie sich in den ihnen gestern noch fremden Tischsitten keine Spur von Prinzen und Botschaftern. Typisch bis heute! Ein Eskimo staunt und fragt nie. Man stellt ihn in eine beliebige Umgebung, und er paßt sich ihr an, als sei er dort geboren. Unsere jungen Leute verraten mit keiner Miene Erstaunen, wenn das Schiff Kopenhagen angelaufen hat. Wie selbsverständlich begeben sie sich durch die hauptstädtischen Straßen an Riesenhäusern, modernsten Geschäften und Lichtspielpalästen vorbei.“

Inzwischen ist eine kurze Pause im modernen Gesellschaftstanz eingetreten. Ein junger Mann nimmt neben uns Platz. Er hat die letzten Worte noch aufgefangen und knüpft an sie an:

„Warum sollten wir auch erstaunt sein? In Südgrönland, meiner Heimat, gibt es Kinos. Da kennen wir ja Dänemark schon längst aus dem Film. Die Nordgrönländer sind noch nicht so weit. Auch sie haben jedoch genug über Europa gelesen, um sich ein Bild zu machen. Schließlich geht ja jedes grönländische Kind vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr zur Schule. Nur ganz alte Frauen sind noch Analphabeten.“ Mein Nachbar stellt sich vor. Er heißt Jorgen Holm, kommt aus der Haupt Stadt Godthaab und studiert am Haslever Lehrerseminar.

Sein Vater ist noch Jäger, und Jäger sind oder waren die Väter der Mehrzahl hier. Als Kind wohnte Jorgen Holm in einem Igalo (Eingeborenenhütte). Stetig aber setzte sich die Zivilisation durch. Heute unterscheidet sich das moderne Holzhaus der Familie nicht mehr vom dänischen Nachbarheim. Auch die Möbel sind dänisch. Stark ist der Familienzusammenhalt. Ehe löst die Hausgemeinschaft nicht, sie vergrößert sie nur um eine Person und später um Kinder und Kindeskinder.

In unserem Kreise befindet sich ein grön- ländisdier Theologiestudent — die gesamte Bevölkerung ist protestantisch —, der sich mit einer dänischen Studienkollegin verlobte. Sie wird ihn begleiten und hat sich damit abgefunden, gleichfalls im Schoß der Familie aufzugehen: „Niemals würde ich versuchen, ihn hier zurückzuhalten. Er liebt sein Land zu sehr.“

Auch Erik Thorning aus Umanak in Nordgrönland ist von gleichen Gefühlen beseelt, die sich am besten folgendermaßen formulieren lassen: „Glücklich, Dänemark kennenzulernen, mindestens ebenso glücklich, wieder heimzukehren.“

Dabei kommt dieser sehr intelligente Möbeltischler aus dem primitivsten Teil Grönlands, etwa drei Wochen Schiffahrt von der Hauptstadt entfernt. Dort gibt es außer Spital und Schule noch keine europäischen Häuser, sondern nur Igalos und bestenfalls warmhaltende Torfhütten — von Isolierwänden, die der Süden bereits gut kennt, ganz zu schweigen, Man ißt, arbeitet und schläft auf der gleichen, zwei Meter breiten Holzplatte, Briks genannt.

Aber er ist optimistisch: „Jetzt geht in Grönland alles viel schneller vorwärts. Für unseren Aufbau stand 1939 nur eine Summe von 750.000 Dänenkronen zur Verfügung. Dieses Jahr sind 9,000.000 Kronen daraus geworden. Auch die Einfuhr von Verbrauchsgütern hat sich verdoppelt.“

Ein paar Minuten wird politisiert. Man begrüßt die Beteiligung der Grönländer am Wirtschaftsleben, die etwa 50 Prozent ausmachen wird. Chauvinismus beobachtete ich jedoch nirgends. So halten es die Menschen hier für verfrüht, schon ganz auf dänische ökonomische Kontrolle zu verzichten. Selbst für Entsendung eigener Abgeordneter ins Parlament — ein Angebot, da ihnen gemacht wurde — sei die Zeit noch nicht reif. Ihnen genügte Beteiligung am Grönlandkomitee. Zweierlei allerdings erwarten sie: Vergrößerung der inneren Selbständigkeit und eine zentralere aus Kopenhagen nach Godthaab verlegte Regierung. Der Krieg hat sie gelehrt, daß man ein Haus auch aufbauen kann, ohne daß erst die Genehmigung aus der dänischen Hauptstadt eintreffen mußte. Nicht zuletzt wünschen sie ein Ende der völligen Abgeschlossenheit. Niemand unter diesen Grönländern hier glaubt daran, daß näherer Kontakt mit der Außenwelt ihre Rasse zum Aussterben verurteilen würde. (Unter diesem Vorwand erfolgte die über 200jährige Isolierung.)

Gudrun Chemnitz, eine auffallend schöne 19jährige, ist sehr erfreut darüber, daß nunmehr für die Lokalparlamente auch Frauen aktives und passives Wahlrecht besitzen: „Wir sind bestimmt reif dazu.“ Gudrun hat ihren Vater, einen Pastor, seit 15 Monaten nicht mehr gesehen. Sie soll eine besonders sorgfältige Ausbildung genießen. Noch drei Jahre Lehrerseminar Sylkeborg, dann ein praktisches Jahr und — Gudrun will in Nordgrönland eine Mädchenschule übernehmen.

Zwei andere Mädchen, Thale Nathansen von Frederikshaab und Arnak Morch aus Upernivik, begeistern sich gleichfalls am Frauenwahlrecht. Auch sie sind Studentinnen, während die Mehrheit der anwesenden jungen Damen den Haushalt erlernen oder sich auf Hebammen- und Krankenschwesternberuf vorbereiten. Beide gehören hier einer Parteifrauenschaft an. „Aber zu Haus gibt es keine Parteien. In unseren kleinen Parlamenten berät man nicht über große Politik, sondern über praktische Dinge.“

Als ich mich gegen Mitternacht verabschieden will, führt man mich noch rasch durch das ganze Haus.

In einem Raum liegen Bücher in Blindenschrift. Auch dieser junge Mann hatte am Fest teilgenommen. Man bediente ihn besonders sorgfältig und behutsam führten ihn die Mädchen beim Tanz durch den Saal.

Sehr schön möbliert ist der Bibliotheksraum. Rasmussen, den alle hier lieben, blickt in öl auf uns herab. Andere Bilder zeigen schöne Grönlandlandschaften — „von einem Eskimomaler“. Den unaussprechlichen Namen vergaß ich leider.

Mein Begleiter, der sehr intellektuell wirkt, berichtet noch etwas über das Geistesleben in seiner Heimat. „Es werden nuz wenig Bücher geschrieben und gedruckt, da der Markt ein so kleiner ist. Trotz der Größe des Landes existiert ein einziger Rundfunksender. Die zwei Eskimozeitungen werden in lateinischer Schrift gedruckt.“

Zu den wenigen grönländischen Autoren, die sich einen Namen machten, gehört Erling Hoegu, als der sich mein Begleiter identifiziert. Er studiert, schreibt für den Rundfunk und ist nebenbei noch Schauspieler. Er ist der Urenkel eines deutschen Auswanderers, Typus des modernen, aufgeschlossenen Eskimos.

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