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Grofie Oper zu kleinen Preisen

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EINE MENSCHENSCHLANGE steht unter den Arkaden der Karntner- StraBen-Seite der Staatsoper. Mann- lein und Weiblein, Madchen und Bur- schen. Sie warten darauf, daB sich eine Seitentfire der Oper offnet und ihnen EinlaB in die Statte hochster Kunst gewahrt. Diejenigen, die da stehen, haben keine so dicke Brief- tasche, daB sie sich einen Sitzplatz leisten konnen. Es ist die Gilde der Stehplatzler, von denen viele fast jeden Nachmittag und Abend bei der Oper anzutreffen sind, die schon zu ihrer zweiten Heimat geworden ist. Fur viele schleichen die Minuten wie Schnecken dahin, andere sind das Warten schon so gewohnt, daB sie jeden Zeitbegriff verloren haben. Da plaudern zwei fiber den letzten Sonntag, ein junger Bursch — offensichtlich ein Student — hat sich in seine Skrip- ten vertieft und nimmt von den drei Madchen keine Notiz, die neben ihm mit recht viel Stimmaufwand fiber den besten Tenor diskutieren. „Ich finde, der beste ist Mario del Monaco." — „Aber, wo, ich habe Flatten von Jussi Bjoerling zu Hause — ich sag euch, der hatte eine Stimrne, wie es sonst keine mehr gibt." — „Mdglich, aber als .Othello' ist Mario unschlagbar." — „Und als .Cavaradossi' komint wieder keiner gegen den di Stefano auf." Die drei jungen Damen schnattern durch- einander, und immer mehr schlieBen sich dem Fachsimpeln an. Ein Ameri- kaner hat sich in malerischer Pose an die Wand gelehnt und studiert die Pariser Ausgabe der „Herald Tribune", wahrend er mit seinen Ziihnen eifrig einen Kaugummi bearbeitet. Eine kleine, zierliche Japanerin hat ent- deckt, daB sich das Handkofferchen leidlich gut als Sitzgelegenheit ver- wenden lafit, und mfiht sich durch eine deutsche Grammatik, dabei oft die Augen verzweifelt zum Himmel auf- schlagend.

Unruhe kommt in die Wartenden. Die Stockerln, die ein paar Stehplatzler vorsorglich mitgebracht haben, werden zusammengeklappt, die auf dem Boden deponierten Sachen auf- gehoben. „Was, schon Kassaeroff- nung", fragt ein Neuling und wird von den alten Stehplatzhasen nur ver- achtlich angesehen. Undenkbar, daB es einen gibt, der nicht weifi, daB man nur fibersiedelt — und zwar in den groBen Garderobenraum. Die braun- befrackten Billeteure passen auf, daB sich niemand vorschwindelt. Nach wenigen Minuten herrscht jetzt da das gleiche Bild, das man eine knappe halbe Stunde vorher unter den Arkaden hatte beobachten konnen. Auf dem blitzsauberen Boden laBt es sich auch ohne Unterlage bequem sitzen, und viele machen von dieser Gelegen- heit Gebrauch.

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DIE STEHPLATZLER SIND UBERHAUPT ein eigenes Volkchen fiir sich. Sie wissen mehr uber das Privatleben der Opernsanger und -sangerinnen als ein Skandalreporter, haben Spitznamen ffir 'sie erffinden und geben, was ihre Lieblingebetrifft, grofi den Ton an. Auch geniert man sich nicht vor den anderen, eine Partitur auf den Knien liegen zu haben und ein' imaginares Orchester zu dirigieren.

Warten, warten und wieder warten ist die Devise, die auf dem Stehplatz herrscht. Erst steht man im Freien, dann wird man in den groBen Garderobenraum eingelassen, und dann, wenn ffinf Viertelstunden vor Beginn der Vorstellung die Karten ausgegeben werden. dauert es noch mehr als eine Stunde, bis endlich der Vor- hang das Biihnenbild freigibt. Und fiir die dann folgenden drei Stunden stel len sich 500 Opernfans stundenlang, ja oft tagelang an. Gar nicht von der Operneroffnung im Jahre 1955 zu er- zahlen, wo die Stehplatzler ffinf Tage und ffinf Nachte auf den groBen Augenblick harrten. Man stand und steht auch heute noch ein, zwei oder gar drei Tage. Im Juni 1956, als Maria Callas und Giuseppe di Stefano in Wien sangen, stellten sich die Be- geisterten zwei Tage und zwei Nachte an. Oder als Mario del Monaco am

15. April im Jahr darauf in der Wiener Staatsoper seinen ersten Auftritt mit „Othello“ feierte, opferten 500 Leute drei Tage und drei Nachte. In den heurigen Festwochen hat es ahnliche Situationen gegeben, stand doch die Premiere von „Turandot" mit Birgit Nilsson und Giuseppe die Stefano und eine ganze Reihe anderer Glanz- aufffihrungen auf dem Programm. Viel- leicht war es heuer nicht mehr ganz so anstrengend wie vor ein paar Jah- ren. Idealisten haben namlich ein System gefunden, um das tagelange, ununterbrochene Anstellen zu erleich- tern. In der Nacht vor der Vorstellung werden beim Stehplatztiirl an Hand einer Liste, in die der Name des Be- treffenden eingetragen wird, Nummern ausgegeben. Um 16 Uhr stellt man sich dann an und wird der Reihe nach auf- gerufen. Damit .sich die anderen nicht benachteiligt ftthlen, hangt ein Plakat in drei Sprachen an der Stehplatztfir, das auf diese Einffihrung aufmerksam macht und gleichzeitig bekanntgibt, zu welcher Vorstellung wieder Nummern ausgegeben werden.

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DER ALTE DA AUF SEINEM HOCKER schmokert in einer geborg-

ten Zeitung. Er zahlt — wenn man es so sagen darf — praktisch schon zum Inventar des Stehplatzes. Fast jeden Abend ist er da, immer einer der ersten. Die wenigsten wissen, wie er heiBt und wo er wohnt, welchen Be- ruf er einmal hatte und wovon er lebt. Aber alle wissen, daB er herrlich aus vergangenen Glanzzeiten der Wiener Oper erzahlen kann. Man hort ihm gerne zu, wenn er in seinen Erinne- rungen kramt und daraus wie aus einem offenen Buch vortragt. Er erzahlt von der Jeritza, vom Piccaver und den vielen anderen GroBen. Er kann fast alle Opern auswendig, kennt die Fein- heiten — kurzum, er ist „der" Stehplatzler. Jeden Abend steigt der Alte die Stiegen zur Galerie hinauf, denn da oben. auf dem .Juchhe", kostet der Platz nur ffinf Schilling, wahrend er fiir das Stehparterre sieben Schilling hinlegen mfiBte.

Das Erlebnis fur diesen Menschen beginnt, sowie er die Schwelle des

Handlung. Seine Freundin wollte un- bedingt in die Oper — was blieb ihm also ubrig, als mitzugehen. Ein anderer wieder widmet seine ganze Aufmerk- samkeit der jungen Dame neben sich, wahrend sich seine beiden Freunde in die Partitur vertiefen. Eine etwas altere, aufdringlich geschminkte und parfiimierte Frau tut, als safie sie in einer Loge, und ein zu spat gekomme- nes Paar — sie mit einem Nerzcape, er im Smoking — wartet, sich leise unter- haltend, bis es zu seinen Platzen im Parterre gefiihrt wird. Stehplatzler, die zum erstenmal in die Oper gehen, scheinen Hollenqualen zu leiden. Erst das lange Anstellen und dann das ruhige Stehen, bei dem man sich auf das Werk konzentrieren sollte, einem aber immer wieder die schmerzenden FfiBe einfallen. Ein zwolfjahriger Bub, den sein grofier Bruder hierher ver- schleppt hat, scheint sich recht wohl zu ffihlen, obwohl er kaum auf die Bfihne sieht. Und wahrend man als

Journalist so seine „StreifIichter“, seine Eindrucke, sammelt, wird man von den alten Stehplatzhasen und auf- merksamen Opernfans in die Kategorie ..Banause" eingereiht...

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DIE PAUSE BENUTZT MAN, nach- dem der Stehplatz durch ein Programm oder ein Taschentuch reserviert ist, zu den verschiedensten Dingen. Einige Stehplatzler nehmen samtliche in den Gangen aufzutreibende Sitzgelegen- heiten ffir sich in Anspruch, andere wieder promenieren durch den Gobelin- und Marmorsaal oder gehen auf die Terrasse. Immer wieder aber gibt es einige, die die 15 Minuten dazu be- nfitzen, in einem nahegelegenen GroB- bfifett ein verspatetes Nachtmahl hin- unterzuschlingeh.

Man kann aber nicht umhin, den ihrer Opfer wegen bewundernswerten Stehplatzlern einen Vorwurf zu machen. Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn einem Kfinstler, der lange nicht in Wien war, Auftrittsapplaus auf offener Bfihne gespendet wird. Auch kann man es tolerieren, wenn ein Sanger oder eine Sangerin, die eine Arie grandios gesungen haben, Szenenapplaus bekommen. Aber sehr viel ist dagegen zu sagen, wenn auf Galerie, Balkon und im Stehparterre von meist fanatischen Teenagern ein Geheul angestimmt wird, daB man meint, eine Horde wilder Affen mache das Opernhaus unsicher. Und ebenso ist es durchaus fehl am Platz, wenn einem Sanger, nur weil eine eng- anliegende Hose seine wohlgeformten Beine zur Geltung bringt, nach einer Arie, durch die er sich mehr gequalt als gesungen hat, zugejubelt wird — wie es bei uns leider manchmal der Fall ist. Aber trotzdem: der Stehplatz hat seinen eigenen Reiz, ist eine andere Welt — und ich personlich mochte ihn nicht vermissen.

Opernhauses iiberschreitet. Lange schon hat er keinen dunklen Anzug mehr — vielleicht besafi er nie einen. Sein alter, abgetragener, grauer ist an vielen Stellen schon verdachtig dfinn, ein Zeuge seiner materiellen Armut. Im Inneren aber ffihlt er sich unend- lich reicher als die Herren im Smoking und die Damen im Nerz. Keinem der Billeteure wfirde es einfallen, ihn seiner Kleidung wegen zu beanstanden. Nur manchmal,. wenn eine Premiere auf dem Programm steht oder eih groBer Kfinstler in Wien zu Gast ist, sieht man den Alten im Stehparterre. Irgend jemand hat dann seinen „Grauen“ aufgebfigelt, und zur Feier des Tages tragt er ein weifies Hemd mit Krawatte, und ffihlt sich unend- lich glucklich. Man braucht kein Psy- chologe zu sein, um zu erkennen, daB er ganz ffir die Oper lebt.

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SO BUNT UND SO VERSCHIEDEN DIE MENSCHEN SIND, die, weil es groBteils ihre Geldborse nicht erlaubt, auf diese Art in die Oper gehen, so bunt und verschieden sind auch ihre Charaktere und Beweggrfinde, ganz oben auf der Galerie, im Stehparterre oder auf dem Balkon, das Werk eines groBen Meisters anzuhoren. Viele horen wirklich nur, aber manche gehen in der Musik ganz auf und glauben sich auf silbernen Schwingen durch das All getragcn. Der Applaus reiBt sie dann in die nfichterne Wirklichkeit zurfick.

Diese Gruppe von Madchen, zum Beispiel, ist nur gekommen, weil ihnen der Tenor, der heute den „Cavara- dossi" in „Tosca“ singt, so gut ge- fallt. Bei jeder halbwegs durchstande- nen Arie brechen sie in Entzficken aus, das wohl mehr dem Mann als dem Kfinstler gilt. Ein junger Mann lehnt hochst bequem an der Wand und ver- folgt vollkommen desinteressiert die

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