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Habt Nachsicht mit uns!

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Hochverehrte österreichische Bundesländer!

Verzeiht vielmals, daß ein unbekannter Wiener es wagt, sich an Euch mit einem Bittbrief zu wenden. Noch dazu hat der Schreiber dieser Zeilen keinerlei Mandat oder Aufforderung zur Absendung dieses Briefes, sondern handelt nur unter eigener Verantwortung. Aber der Unterzeichnete sieht diesen Brief als einzigen Ausweg an, um seinem bedrängten Herzen Luft zu machen, um die Qualen seiner Seele der Oeffent- lichkeit zur Kenntnis zu bringen. Aber er sieht diesen Brief vor allem auch als ein Gesuch an, das er den österreichischen Bundesländern als Wiener zu Füßen legt. Das Gesuch enthält folgende Bitte:

Ihr österreichischen Bundesländer, habt Nachsicht mit uns! Mit uns Wienern sowohl als auch mit unserer Stadt.

Uns Wienern geht es aus verschiedenen Gründen nicht gut. Und um unsere Lage zu verbessern, erlaubt sich der Verfasser dieser Zeilen, diesen Hilferuf an Euch, hochgeehrte österreichische Bundesländer, abzusenden.

Es geht uns Wienern nicht gut. Wirtschaftlich geht es uns sehr gut, wie schon lange nicht. Aber sonst finden wir uns nicht zurecht.

Da ist einmal der merkwürdige Umstand zu vermerken, daß wir Wiener bei den österreichischen Bundesländern nicht beliebt sind. Man rhält uns für Zentralismen, füri.Blutsauger. für Gleichschalter. Für Menschen, die die österreichischen Bundesländer als unterworfene Provinzen ansehen. Die Feindschaft gegen die Wiener geht so weit, daß jeder aus der Bundeshauptstadt, der sich in den Bundesländern niederlassen will, dort als lästiger, wenn nicht gar als feindlicher Ausländer betrachtet wird. Der betreffende Wiener kann sich von dieser Feindschaft nur dadurch retten, daß er seine Wiener Nationalität aufgibt und ein Ueber- tiroler, ein Ueberkärntner wird, der nun ebenfalls auf Wien schimpft. In früheren Zeiten war es nicht so, allerdings in bezug auf andere Länder. Wenn wir Wiener nach Mähren reisten, nach Triest oder nach Dalmatien, nach Galizien oder in die Bukowina, waren wir überall gerne gesehen. Mochten die betreffenden Länder auch noch so sehr mit der Politik Wiens unzufrieden sein, im Grunde genommen hatten die Menschen dort nur eine Sehnsucht: selbst Wiener zu sein. Wo immer es ging, versuchten sie deshalb, Wien zu kopieren. Das Rathaus in Reichenberg oder das Rathaus in Györ sehen wie kleinere Brüder des Wiener Rathauses aus. Das „Narodni divadlo” in Prag und die „Königliche Oper” in Budapest sind Schwestern der Wiener Oper. Das Deutsche Landestheater in Prag oder das Theater in Karlsbad sahen auch äußerlich aus wie das Deutsche Volkstheater in Wien. Ueberall spielte man die Wiener Operetten, überall sang man die Wiener Lieder. Die Sehnsucht eines Schauspielers, der in Troppau begann, dann nach Teplitz kam und weiter die Theater der Monarchie durchwanderte, war es, einst als Krönung seines Lebens ans Burgtheater engagiert zu werden (heute dagegen will jeder am Burgtheater anfangen und beim Film enden). Wir Wiener waren in den Ländern nördlich, südlich und öst-’ lieh von der Reichs- und Residenzstadt gerne gesehen, wir fühlten uns überall zu Hause. Ob man in Marienbad im Cafe Egerländer saß oder im Cafe Roma in Lemberg, im „Quarnero” in Abbazia, im „Continental” in Prag, im „Narodna kafarna” in Sarajewo, bei Padowetz in Brünn, wir waren eigentlich immer in Wien. Wer über die „Alte Wiese” in Karlsbad ging, glaubte, eine besonders schöne sommerliche Ausgabe der Kärntner Straße vor sich zu haben. Wer bei Meyers in Preßburg oder bei Gerbaud in Budapest Indianer mit Schlag aß, der glaubte in Wirklichkeit bei Demel zu sitzen. Und wer sich bei Pupp in Karlsbad zum Frühstück niederließ, mußte den Eindruck haben, er sei irgendwo in der Wiener Umgebung. Wir fühlten uns überall in der. alten Monarchie zu Hause, wir waren gerne gesehen. Nun aber sind diese Länder uns versperrt, wir können nur in die Bundesländer reisen, aber dort werden wir nicht gerne gesehen.

Verehrte österreichische Bundesländer! Habt Nachsicht mit uns. Habt Geduld mit uns. Laßt uns Zeit, unsere neue Daseinsform zu finden. Es ist nicht leicht, vom Status einer beliebten kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt eines Fünfzigmillionenreiches in den Status der Bundeshauptstadt eines kleinen Staates hinüberzuwechseln. Früher lagen wir zwischen Feldkirch und Klausenburg, zwischen Krakau und Cattaro. Heute liegen wir im Schnittpunkt von Neunkirchen und Mistelbach, von Eisenstadt und St. Pölten. Große Räume verführen zu großem Denken, kleine zu kleinem. Das müßt Ihr verstehen, verehrte Bundesländer. Habt deswegen Nachsicht mit uns.

Früher kam aus diesem ungeheuren Raum jeder nach Wien, der etwas werden wollte, sei es als Hand- oder Kopfarbeiter. Und auch die Länder um dieses Reich sandten ihre Söhne nach Wien. Kurz vor dem ersten Weltkrieg lebten Klement Gottwald als Tischler, Benito Mussolini und Wenzel Jaksch als Bauarbeiter in Wien, Pilsudskį wartete hier auf die Auferstehung Polens, Masarykr hielt im Parlament flammende Reden, - d Gasperi studierte an der Universität, Bronstein alias Trotzki bewohnte die Kaffeehäuser, Stalin studierte die Vorschläge der k. k. Sozialdemokratie zur Lösung der Nationalitätenfrage (die er dann später in Rußland anwandte). Heute kommt niemand zu uns, außer die Fremden, die hier ihre Kongresse abhalten, die nun wirklich in erster Linie tanzen.

Aber diese Kongreßbesucher wollen immer nur ein bestimmtes Wien sehen, nur ein bestimmtes Wien erleben. Es ist das alte kaiserliche Wien. Wer sich die Programme aller dieser Kongresse ansieht, der wird bald erkennen, daß sie immer- nur das gleiche Schema haben: die Fremden mit dem bekanntzumachen, was aus der kaiserlichen Zeit übriggeblieben ist. Da werden die Museen besucht, die Spanische Reitschule mit ihren herrlichen Lipizzanern (die neben den Sängerknaben und den Philharmonikern Oesterreichs beste —’ und einzige — Kulturattaches sind); die Schatzkammer mit ihren kaiserlichen Kronen; die Nationalbibliothek; das Burgtheater, an dessen Stirn geschrieben steht „K. k. Hofburgtheater”; die Oper, Schönbrunn; Klosterneuburg (den österreichischen Escorial); die Burgkapelle, die Kapuzinergruft. Zum Schluß empfängt der Herr Bundespräsident die Kongreßteilnehmer in der Hofburg, durch deren Fenster das Tageslicht infolge der Vorhänge, die den Doppeladler tragen, nur ‘gedämpft hereinfällt.

Es wäre hoffnungslos, dieses Programm je ändern zu wollen. Es gäbe einen Aufstand der Fremden. Denn sie sind wie verrückt, jene kulturgesättigte Atmosphäre, jene Champagnerluft zu erleben, die das unvergängliche Fluidum des kaiserlichen Wiens gewesen war. Sie wollen kein Wien sehen, das im Wirtschaftswunder aufblüht, sie haben genug von den Wirtschaftswundern in ihren eigenen Ländern, sie wollen endlich das Erlebnis haben, Mensch zu sein und kein Automat. Und dieses Erlebnis suchen — und finden — sie eben nur in diesem kaiserlichen Wien. Was sollen wir machen, hochverehrte Bundesländer? Wir kommen von unserer Geschichte nicht los, sogar die Fremden zwingen uns, sie nicht zu vergessen.

Wir Wiener müssen jetzt wie im Nestroy- Stück „Zu ebener Erde und im ersten Stock” leben. Denn einerseits leben wir im ersten Stock, im kaiserlichen Wien, und anderseits leben wir zu ebener Erde, im vielfach provinziellen Dasein unserer Gegenwart. Hochverehrte Bundesländer, Ihr behauptet zwar immer, daß wir Euch als Provinzen ansehen. Ihr könnt beruhigt sein, wir tun dies nicht; aus dem einen Grund, weil wir der Ueberzeugung sind, daß es in Oesterreich nur ein Bundesland gibt, das die Chance hat, „Provinz” zu werden, nämlich Wien selbst. Schaut Euch doch Wien an, wo sind sein einst berühmter Geschmack,’ seine Eleganz geblieben? Wo seine Leistungen auf dem Gebiet der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft?

Wo ist sein Geschmack geblieben? Man gehe doch durch die Kärntner Straße. Was war es einst für eine Lust, durch diese Avenue zu schreiten und ihre Auslagen zu betrachten. Nicht nur um der Gegenstände willen, die darin ausgestellt waren, sondern auch um die Art der Aufstellung. Heute möchte man sie meist mit verbundenen Augen durcheilen. Früher war oft nur ein einziges Kleid, ein einziger Stoff, eine einzige Flasche Parfüm in einer Auslage (in Paris ist dies noch zu sehen), während jetzt ihre Auslagen den Eindruck machen, als ob die Geschäftsinhaber sie mit ihrem Magazin verwechselt haben, in dem sie alle ihrą. Waren aufstapeln. (Nur die Auslage der Konditorei Demel am Kohlmarkt gibt noch eine Ahnung davon, wie schön Schaufenster dekoriert werden können.)

Verehrte Bundesländer! Seht Euch auch die Neubauten in Wien an.

Nirgends werdet Ihr so häßliche Wohn- oder Industrieneubauten in Oesterreich finden wie hier in Wien. Ein Postgebäude wie das neue kleine in dem Dorf Schörfling am Attersee hätte — weil es sehr schön ist — sicherlich keine Chancen, je in Wien zu stehen.

Wo gibt es noch Eleganz in Wien? Besucher der Wiener Oper, die im Smoking erscheinen, sind in neunundneunzig von hundert Fällen Amerikaner. Wo gibt es noch elegante Männer, elegante Kavaliere, die bereit sind, für etwas ihre Lanzen zu brechen? Höchstens trifft man Spesenkavaliere, die bereit sind, die einzigen Lanzen, die sie besitzen, nämlich ihre Bilanzen, zu frisieren.

Oder gibt es noch eine Wiener Literatur? Vor fünfzig, vor dreißig Jahren hatte die Wiener Literatur Weltgeltung. Da gab es noch die Werfel, Kraus, Hofmannsthal, Broch, Musil, Altenberg, Zweig, Schnitzler, Roth. Allerdings stand diese Literatur im Geruch, „verjudet” zu sein. Tatsächlich waren von zehn berühmten Schriftstellern — um einen Witz zu variieren — elf Juden, denn auch Hofmannsthals Vorfahren hatten Löw geheißen und sich auf dem Wiener jüdischen Zentralfriedhof begraben lassen. Heute gibt es dank Hitler keine Juden mehr in Wien. Aber auch keine Dichter von Weltgeltung. Wohl laufen einige junge Leute umher, die sich ge- haben, als hätten sie mit ihren Gedichten, mit ihren Romanen Goethe weit übertroffen. Aber ihre Einbildung ist die einzige literarische Bildung, die sie besitzen.

Blickt auf das Gebiet der Wissenschaft: Die Grazer Technische Hochschule hat längst nicht nur die Wiener überflügelt, sondern ist (nach der Züricher ETH) die zweitbeste technische Hochschule Europas geworden. Die einst so berühmte Wiener historische Schule ist aus Mangel an Nachwuchs in Gefahr, auszusterben. Und die einst noch berühmtere Wiener medizinische Schule, von der die ganze Welt sprach? Ich sehe Euer Lächeln, verehrte Bundesländer. Aber bitte, lacht nicht, sondern habt Nachsicht mit uns.

Depn es ist nicht leicht, ständig im kaiserlichen Gewand umherzugehen und dabei das Gefühl zu haben, langsam, aber sicher die erste und einzige Provinz Oesterreichs zu werden. Vielleicht wird Wien eines Tages eine Daseinsform’finden, die die Stadt aus diesem Dilemma herausführen kann. Habt bis dahin Nachsicht mit uns, verehrte Bundesländer! Vor allem helft uns, diese Daseinsform zu finden. Das wird um so leichter gehen, je weniger ihr uns Wiener als lästige Ausländer behandelt. Wir sind erfreut, wenn Ihr zu uns kommt und Euch bei uns wohl fühlt. Laßt uns auch bei Euch glücklich sein. Wir wissen längst, daß man Eure Individualität achten muß, daß Ihr — außer wenn Ihr weit im Ausland seid und man von Oesterreich nur Wien kennt — keine Lust habt, Wiener zu werden.

Helft vor allem mit, daß Wien nicht Eure Provinz wird. Schickt uns doch Eure besten Köpfe und laßt sie nicht immer ins Ausland abwandern. Sendet uns Eure Studenten, damit sie Wien kennenlernen. Sie werden über kurz oder lang in Wien verliebt sein.

Helft uns. Und habt Nachsicht mit uns, bis wir uns in unser neues Gewand eingelebt haben, bis wir genau wissen, was wir zu tun haben, um von Euch ebenso geliebt zu werden wie einst in der Monarchie von unseren östlichen, nördlichen und südlichen Nachbarländern.

Dies alles bittet Euer ergebener

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