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Hallo, Lokführer!

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„Wer noch zugestiegen, bitte?“ — nach jeder Station des Zuges tönt die gleiche Stimme an Ihrem Abteil vorbei. Immer der gleiche Mensch mit Beamtenmütze, Tasche und dickem Fahrplan geht vorbei, schaut herein, bleibt stehen, gibt Auskunft, wird als Lästigkeit empfunden, wird übersehen oder beschnattert. Das ist der oder einer der Zugführer jenes Vehikels des Verkehrs, das Sie sich aussuchten, um an irgendein Ziel zu gelangen. S i e wissen, wohin Sie reisen wollen. Lind das genügt Ihnen, zumal da die Fahrkarte teuer genug war. Gott weiß wohl auch, wohin Sie reisen, ganz abgesehen, ob Er damit einverstanden ist oder nicht. Und da kommt einer — kaum daß Sie das kostspielige Massentransportmittel bestiegen haben — und will auch noch wissen, wohin Sie fahren und ob Sie dazu nach Ihrem Fahrtausweis berechtigt sind. Gott ist also nicht so streng — wenigstens nicht im Augenblick —, wenn es um Ihre Reise geht. Aber die Fahrtleitung ist streng: nach Maß, Zahl und Gewicht werden Sie geprüft und — gezwickt, das heißt, der Fahrtausweis wird als gültig erklärt und Sie können Weiterreisen. — Wer? Sie allein? 0 nein, es geht jedem so. Dem Nachbarn neben Ihnen. Und dem Unbekanntesten im dritten Waggon vorn.

Aber fahren Sie einmal eine weite Strecke mit einem Zug. In der ersten Stunde sind Sie noch nicht müde und Sie ertragen das „Noch jemand zugestiegen, bitte?“. Nach fünf Stunden finden Sie diesen Mann lästig. Nach acht Stunden sind Sie bereit, mit ihm Streit anzufangen, wenn sich nur eine Gelegenheit dazu ergäbeI Aber acht bis zehn Stunden wiederholt dieser Beamte mit der Mütze, der Tasche und dem dicken Fahrplan seine Tour.

Haben Sie sich ihn schon einmal angeschaut? Denken Sie: der von heute früh hatte eine Frau, drei Kinder, einen Schrebergarten, ein Parteibuch, eine Bruchoperation vor vier Wochen und eine Brille seit seinem zehnten Lebensjahr. Und dies alles hatte er nach fünf Stunden und nach acht Stunden auch noch — nur daß seine Kinder und seine Frau und der Schrebergarten mittlerweile einige hundert Kilometer weiter von ihm entfernt waren. Sonst war er immer noch der gleiche, mit dem gleichen Ruf und mit einer ungleich müderen Maske. Denn der ist ja nicht nur ein Beamter, der Sie stört und den Nachbarn stört und den Unbekannten im dritten Waggon vorn. Der ist auch noch ein Mensch. Ein Mensch wie dul — könnte man sagen. Nur sind Sie ja momentan privat und fahren in die Ferien, während er im Dienst ist und sehr weit vom Urlaub (vielleicht auch längst nach dem Urlaub, weil er den nehmen muß, wenn Sie alle nicht so sehr die Bahn beanspruchen). Allerdings zahlen Sie ja auch dafür. Und dann ist der Fall des Beamten, der Sie stört und trotzdem ein Mensch ist, für Sie erledigt? Oh, mit dem Zahlen ist noch gar nichts erledigt: denn erstens müssen Sie selbst noch den Zug bestiegen haben und die Fahrtdauer überdauern. Und zweitens muß für den Beamten erst der Zahltag kommen, bis ihr beide quitt seid. Und drittens — das ist das wichtigste und der Unterschied zwischen Ihnen, Herr, Frau Reisendel — Sie haben einen Feind: den Beamten. Und er hat wohl einige hundert, falls er Sie überhaupt als solche nimmt. Aber er nimmt Sie nicht als Feind, sondern als Kunde, zu dem er freundlich sein soll und muß — denn er ist im Dienst. Könnten Sie nicht einmal Ihren Aerger vernichten und den Mann anschauen? Er hat ein Gesicht und einen Charakter und seine Sorgen und seine Heimat. Lind mit allem dem ist er unterwegs. Lind wenn Sie recht zusehen: er ist eigentlich gar nicht so grimmig und feindlich. Er sagt manchmal „Guten Morgen!“ oder „Guten Tag!“

und wünscht „Gute Reise!“. Wenn Sie das doch merken würden! Ich garantiere Ihnen: Ihre Reise wäre viel fröhlicher. Und wenn er wieder vorbeikommt, dann nicken Sie ihm doch nach der fünften Stunde einmal zu: er kennt Sie gewiß schon seit seiner ersten Waggontour. Auch er sieht immer dieselben Gesichter und — e r merkt sie sich. — Könnten Sie ihn nicht einmal, wenn Sie das gleiche Unglück haben wie er, daß Sie des Sonntags reisen müssen, könnten Sie ihn in der sechsten gemeinsamen Fahrstunde nicht einmal ansprechen? Vielleicht so: „Na, haben Sie auch einmal wieder Sonntagsdienst?“ Oder: „Heute ist's heiß, Dienst zu machen!“ Was meinen Sie, was dann geschieht? Wird der Beamte knurriger? Oder wird er menschlicher? Hallo, da erwecken Sie einen Toten zum Leben, einen Beamten zum Menschen! Ist das nicht viel? Und das kostet Sie nur die Ueberwindung, ein paar simple Worte zu sagen und aus Ihrer Eigensinnigkeit für zwei Minuten auszusteigen. —

Sie müssen aufs Finanzamt? Böse Sache! Wir wissen schon! Aber dort sitzen auch Menschen, die Beamte sind und deshalb nicht weniger Menschen. Sie gehen zur Post? Lange Schlangen und „Bitte, eine Briefmarke für eine Drucksache!“. Kleinigkeit! Haben sie „Danke!“ gesagt? Und wenn er nicht geantwortet hat, haben Sie ihn begrobst? Na, heute will er nicht, und heute ist er grantig, und zudem hatte heute früh sein Kind Scharlach. Ach, Ihr Kind war heute früh gesund?! Seien Sie froh und sagen Sie dem Beamten mit dem kranken Kind trotzdem „Danke schön!“. Natürlich sind die Beamten, die hohen und die niederen, ein unbequemes Heer. Und viele sind nicht fröhlich und nicht freundlich. Aber: sind Sie immer fröhlich und freundlich? Nehmen Sie sich an Ihrer eigenen Nase. Ich meine Sie, Herr, Frau Beamteter — ich meine Sie, Herr, Frau vor dem Beamten. Menschlichkeit ist eine schöne Sache. Aber bedenken Sie doch einmal: einer vor dem anderen ist nicht ein X vor einem Y, ist nicht ein Mensch vor einem Menschen, ist nicht ein Geschöpf vor einem Geschöpf. Jeder vor jedem ist jedesmal ein Kind Gottes vor einem Kind Gottes — oder, leider, ein Geschöpf, bestimmt, ein Kind Gottes zu werden vor einem ebensolchen Geschöpf, bestimmt, ein noch besseres Kind Gottes zu werden. Und dann sind wir alle zueinander wie Hund und Katze, Fremde zu Fremden, wie Feind zu Feind. Wären wir wenigstens wie Mensch zu Mensch, wenn jeder ein ganz klein wenig Ehrfurcht mitbrächte! Und wir müßten doch jeder sein wie Bruder zu Bruder und Freund zu Freund — wir könnten doch wenigstens Christen sein, wenn wir es auch noch nicht oder, leider, nicht mehr sind. Und sind Sie es nicht mehr, so ist es vielleicht der andere.

Wie ist es also auf Reisen und im Finanzamt und bei den Behörden und bei den Geschäftsleuten? Hinter jedem Vorwand steht ein Schicksal, und hinter jeder Beschäftigung steht ein Ende, und hinter jedem Leben steht ein Tod, und hinter jedem Augenblick steht die Ewigkeit — nein, jeder Augenblick gehört in die Ewigkeit: „Wir sind nicht von gestern und werden morgen drei Tage alt.“ Wir sind eine Gemeinsamkeit von Geschöpfen, die sich mühsam durch diese Lehmkugel beißen und vor Gottes Thron landen: als Beamte oder als „Partei“.

Neulich bin ich zum erstenmal mit dem Schlafwagen gefahren. Es war herrlich! Wie ein Lausbub habe ich mich benommen. Ich war allein in dem Zweistockbettensalon. Der Zug fuhr durch eine wundervolle Sternennacht. Zuerst habe ich Briefe geschrieben. Das Wür mir bald zu langweilig. Dann habe ich das Fenster weit aufgemacht (die öffnet man ganz anders als im übrigen Zugsystem) und habe hänaus-geschaut. Bald bin ich ins Bett gegangen — aber an jeder Station stand ich auf und habe hinausgeschaut. (Ehrlich gestanden, ich hatte Angst um mein Alleinbleiben!) Aber dem Mann mit dem Abfahrtsignal auf Grün habe ich — im letzten Waggon des Zuges — jedesmal zugenickt. Nur einer hat meinen Gruß nicht erwidert. (Ob er heute nacht müde war?!) Und jedesmal stieg ich wieder ins Bett, sah die dunkle Landschaft vor mir vorbeisausen und hatte eine herrliche Fröhlichkeit in meinem Herzen. Aber mit dieser muß ich dann doch eingeschlafen sein, denn ich wurde zeitgerecht von einem braunlivrierten Mann geweckt, der aufschlüsselte und „Guten Morgen I“ sagte. Als ich mich gewaschen hatte, kam der Mann mit dem schwarzen Kaffee. Na, dann war die Fahrt zu Ende, ich stieg aus, frisch rasiert, gut ausgeschlafen, vor mir ein Tag mit seinen Anforderungen, denen ich gewachsen war. Ganz vorn stand die elektrische Lokomotive. Ich konnte nicht anders als dem verdutzten Mann sagen: „Hallo, Lokführer! Guten Morgen! und: Danke schön!“

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