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Hamburg- weltoffen bei Ebbe und Flut

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DER „BLAUE ENZIAN” rast mit fast 100 Stundenkilometer von München nach Norden, vorbei an geschichtsträchtigen Landschaften, an Weindörfern und Rebenhängen und durch die fruchtbaren Elbmarschen. Der Zug bleibt auf der mehr als 800 Kilometer langen Strecke auf die Minute pünktlich. Er kommt in Hamburg fahrplanmäßig an. Um 22.49 Uhr. Das heißt, nicht um 22.50 Uhr und nicht um 22.48 Uhr. Es ist ein komfortabler Zug, Polstersitze, mit einem Griff verwandelbar, Klimaanlage, Schreibabteil, gläserner Aussichtswagen, Rauchsalon, Speisewagen und — von peinlicher Sauberkeit. Der Dernier cri ist aber der nachts zwischen Zürich und Hamburg eingesetzte „Komet”, ein Gliederzug, vorläufig nur in einer Ausgabe vorhanden, mit Bar, Einzelkabinen, die mit Waschtisch ausgerüstet sind. Selbst der Anschluß für den elektrischen Rasierapparat fehlt nicht…

HAFENSTÄDTE BLICKEN IMMER IN DIE WELT, der sie ihren Wohlstand verdanken. So auch die „Freie und Hansestadt Hamburg”. Gewichtige Worte. Die griechische Polis ist die geistige Ahnin. Sie prägte das politische Gesicht. Die Hansestädte sind ein besonderer Typ der deutschen Gemeinwesen: traditionsbewußt, altdemokratisch. Hamburg verstand es großartig, den Einbruch des Zentralismus abzuwehren. „Was wäre aus uns geworden, wenn wir von Bonns Gnaden abhingen”, sagt man hier. Was dort hochwichtig erscheint, erreicht Hamburg nur noch als Wellenschlag. Wichtig bleibt der Umschlag im Hafen, den Hamburgs Bürger wiederaufbauten und der der „schnelle” heißt. Das weltweite Denken der Reeder und Kaufleute, der Fleiß der Arbeiter, die strikte Ordnung des Soll und Habens, daraus resultiert die faszinierende Ueberlegenheit über den Binnendeutschen. Allenthalben ist Beziehung, nirgends Beziehungslosigkeit. Valparaiso und Melbourne stehen näher als Oberbayern, wohin man wohl gerne in den Urlaub fährt. Der ÜeDerseekaufmänn Sieht;). wie die deutschen Ereignisse in der Welt beurteilt werden. Ihn .umgibt Erfahrenheit. Im Gespräch ist man gleich in medias res. Man geht den Dingen auf den Grund, durchleuchtet sie bis zur Wurzel, epitheta ornantia sind unbeliebt.

„DEUTSCHES WIRTSCHAFTSWUNDER! Sagen Sie lieber die harte Arbeit, der Mut zum freien Wettbewerb und Erhardts starke Nerven, das erklärt die Dinge besser”, meint ein Kollege. Die Stadtbesichtigung zeigt ein neues Hamburg, großzügig geplant und großzügig verwirklicht. Bei 70 Prozent Zerstörung gab es kein Flickwerk. Am sonnigen 3. Mai 1945 glich die Stadt einer Mondlandschaft. Von 563.533 Wohnungen blieben nur 114.757 halbwegs heil. 55.000 Tote kosteten die Luftangriffe, besonders jene an den drei Juli tagen 1943, sie werden als „die Katastrophe” bezeichnet. Dann kam Potsdam, mit der Wirkung eines Spätzünders: Deutschland sollte nur noch Fischkutter bauen dürfen. Dann kamen die Demontagen. Was sollte werden? Hände am Werk. 1956 zählte die Stadt 203.290 neue Wohnungen, davon waren nur 121.993 aus öffentlichen Mitteln gebaut. Mit 17.500 angekommenen Seeschiffen und einem Gesamtumschlag von 27,5 Millionen Gütertonnen ist erstmalig der Stand des letzten Friedensjahres erreicht. 200 Schiffahrtslinien verbinden mit 1100 Häfen. 3000 Industriebetriebe machen Hamburg zur größten Industriestadt Deutschlands. Der Hafen beschäftigt 200.000 Menschen, er ist das Alpha und Omega.

HEINE WAR ALS JÜNGLING nach Hamburg gekommen, ein verträumter Poet, und sah nur „Kaufleute”. Doch fand er: „Hamburg ist die beste Republik, seine Sitten sind englisch und sein Essen himmlisch. Wahrlich, es gibt Gerichte zwischen Wandrahm und dem Dreckwall, wovon unsere Philosophen keine Ahnung haben…” Das schriebe er heute wieder, aber daß es „nur” Kaufleute gäbe, das würde er revidieren. Die Hamburger Museen sind im Kern aus privaten Sammlungen zusammengewachsen. Das private Mäzenatentum hat wohl nicht seinesgleichen im heutigen Deutschland. Auf die Frage, was Tradition sei, gibt es viele Antworten, die beste gab ein Bundestagsabgeordneter. Er sei (man schrieb 1946) vom Senat der Hansestadt Bremen eingeladen gewesen. Man servierte ein frugales Mahl und eine elende Zigarre. Aber alles trug Frack und hinter jedem der geschnitzten Stühle stand ein lautloser Diener in rotem Livree. Die Tradition ist dort reale Kraft, sie bezwingt die Zeit.

VIELE HAMBURGER, Lübecker, Bremer haben die Universitäten besucht, einen oder zwei Doktorhüte erworben oder sind Direktoren großer Unternehmen. Es ist aber durchaus nicht angebracht, sie im Kontor oder in ihrem Heim mit „Herr Doktor” oder „Herr Direktor” anzureden. Zum Erstaunen des titelfreudigen Oester- reichers eröffnet einem der Angesprochene: „Ich bin Herr Westhues!” Es gibt nichts besseres als den alten, guten Namen. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Herr Senator und Herr Konsul, das sind begehrte Titel. Mag sein, daß manches förmlich ist. Aber klare Hierarchie schafft Ordnung und sichere Lebensverhältnisse. Wie man England erst richtig kennt, wenn man die Ehre hatte, auf die großen Landsitze eingeladen zu werden, so eine Hansestadt erst, wenn man die noble Gastlichkeit eines Patrizierhauses kennengelernt hat. Das hansische Patriziat handelt nach dem Dichterwort: „Was du ererbt…” Genau so lauten die Eingangszeilen in einem Heft, das ein Hamburgischer Kaufmann Freunden zueignete, als er das 150jährige Bestehen seines Hauses feierte, das er „von den Vätern ererbt, durch zwei nationale Katastrophen gerettet, und altem Geiste getreu, mit Gottes Beistand zu neuer Blüte geführt hat…” Erich Lüth sagt treffend: „Auch die ältesten Familien unserer Stadt sind immer jung geblieben. Ehe sie degenerieren konnten und senil wurden, starben sie aus. Es gibt keinen ur-ur-uralten Stadtadel bei uns. Und unsere Exklusivität, die so viele Fremde und Zuwanderer schreckt, die Unzulänglichkeit unserer Patrizier und Patriarchen, nun, sie pflegt in spätestens ein- oder zweihundert Jahren dahinzuschmelzen. Die insektenhaften Facettaugen von Eintagsfliegen sehen das allerdings nicht richtig, sie erkennen unsere Rundheit nicht.”

HAFENRUNDFAHRT. Der Hafen ist eine un- erforschliche Landschaft: erstaunlich, achtungs- gebiefiiftf, wissenswert, merkwürdig. Dem” Fremden ist er ein unvergeßliches Erlebnis, dem Künstler Anreiz zu gleichnishafter Schau (auch Kokoschka hat ihn gemalt), dem Hamburger ist er das Leben. Die Werften gleichen Riesenfabriken. Jedes Stück steht in ursächlichem Zusammenhang mit dem anderen. Jedes Schiff ist Maßarbeit, ist anders als das vorhergegangene. In acht bis elf Monaten ist alles Geplante Wirklichkeit. Der größte Tanker der Welt, die „Al-Malik-Saud-Al-Awal” (47.000 Tonnen) lief hier vom Stapel. Ein schmächtiger, älterer Herr mit klaren Seemannsaugen sitzt mit in der Barkasse. Vierzig Jahre auf See, Kapitän a. D. Wer weiß noch um die „St. Louis”, die er kommandierte? Im Mai 1939 ist sie mit 900 Juden an Bord unterwegs nach Havanna, in die Freiheit. Die kubanische Regierung erläßt plötzlich ein Landungsverbot. Der Kapitän hat Order zur Heimkehr, aber er weiß, das bedeutet für die 900 den Tod. Heimatlos auf hoher See; er bestürmt die westlichen Regierungen um Landungserlaubnis. Man hat nur wortreiche Ausreden. Er setzt mit seiner menschlichen Haltung viel aufs Spiel, denn daheim regiert Hitler, hier aber ein echter Seemann, der „Spirit of St. Louis”. Endlich, die Stimmung, von Gerüchten genährt, ist verzweifelt, erbarmt sich Antwerpen. Die Geretteten haben Kapitän Gustav Schröder das nie vergessen. Ein schmächtiger, älterer Herr: Mehr sein als scheinen…

ALS DIE BANKROTTWELLE 18 56 nach Europa Übergriff und Hamburg darunter schwer litt, wandte man sich nach Wien um finanzielle Hilfe, da Preußen sich außerstande erklärt hatte. Die kaiserliche Regierung gewährte damals ein Darlehen von zehn Millionen Mark Banko. Die Wirkung war erstaunlich. Wie nach einem Sommergewitter, so war es damals im Hamburger Wirtschaftsleben. So steht es in einer Schrift, herausgegeben zum 100jährigen Bestehen der Vereinsbank in Hamburg. Aehnlich formuliert es Senator Biermann-Ratjen beim Empfang im Rathaus, in dessen Halle die Büsten Wilhelm I„ Bismarcks und Moltkes stehen. Wilhelm II. fehlt. Hamburg ehrt, wen es ehren will, z. B. seine beiden großen Mitbürger Albert Ballin und Max Warburg. Als der Kaiser vor 1914 einmal die Stadt besuchte, wurde er als „unser hoher Verbündeter” angeredet.

Hamburgs steigende Bedeutung für Oesterreich geht aus einigen Zahlen hervor. 1956 wurden 208.000 Tonnen österreichischer Transitwaren umgeschlagen, 1956 aber 687.000 Tonnen. Im gleichen Jahr 299.000 Tonnen österreichischer Exportgüter, sechsmal soviel wie 1936.

GEGENÜBER DEM „RÜDESHEIMER HOF” streift ein Mercedes 300 einen unvorsichtigen Motorradfahrer, Er trägt eine Lederweste und die Uhr zeigt gerade 18.50. Die Bremsen knirschen; der Fahrer steigt aus, der Unverletzte hat sich erhöben und sagt, noch weiß vor Schreck: „Entschuldigen Sie! sah bie ‘mcht kommen.” Keine Antwort. Der Fahrer sucht nach Kratzern am Lack, die er nicht findet, steigt schweigend ein, fährt schweigend ab. Es gibt keinen Auflauf, keine Parteinahme. Nicht alles geht so glimpflich ab. Die Hamburger Polizei verzeichnet vergangenes Jahr durchschnittlich täglich 75 Verkehrsunfälle mit 33 Verletzten. Jede Woche verloren fünf Menschen ihr Leben.

In Hamburg sind, nach der Statistik von 1954, 150.000 Kraftfahrzeuge zugelassen, daneben 15.000 Mopeds und beinahe 250.000 Fahrräder. Die Problematik ist daher in allen Städten die gleiche: Wie wird man des Verkehrs Herr? Die Straßenbahn sollte in der inneren Stadt durch Omnibusse ersetzt werden. Der Senat kam aber zum Ergebnis, daß diese Llmstellung nicht den gewünschten Zweck erfüllt, weil die erforderliche Straßenfläche bei gleicher Fahrgastzahl für Omnibusse größer ist als für die Straßenbahn. Daher will man einen Teil des Oberflächenverkehrs unter oder über die Erde verlegen: S- und U-Bahn-Ausbau. Die Kosten für die langfristig geplanten Maßnahmen belaufen sich auf etwa 1,5 Milliarden DM.

DAS GRÖSSTE THEATEREREIGNIS der Saison: Faust I. Eine unvergeßliche Regietat von GG, wie Gründgens genannt wird. Ein völlig „entstaubter” Klassiker, aktualitätsgeladen, von gerade atemraubender Zeitnähe mit völlig abgehämmertem lyrischem Schmelz. Höhepunkt dieser Aufführung der nahtlose Ueber- gang von der orgeldurchtönten Domszene der demütig geneigten, weißbehaubten Frauen zur atomaren Walpurgisnacht mit einem hektischen Boogie-Woogie und einem Mephisto, der in den aufsteigenden Atompilz grinst. Will Quadflieg brilliert mit hoher Sprechkunst. GGs- federnder Luzifer ist ganz kosmische Kraft. Antje Weisgerber, die Witwe des Faust der Edin- birrger Aufführung von 1949, Horst Caspar, ein Wunder an Schlichtheit, das mädchenhafteste Gretchen der deutschen Bühne. Dieser „Faust” ist ein Menetekel: Haltet an, wohin wollt ihr, denkt an das Ende!

Diese Eindrücke stammen von einer Pressefahrt, die der Verein „Die auswärtige Presse Hamburg” veranstaltet und hervorragend betreut hatte. Allen Herren, besonders Herrn Egon Heymann, sei herzlich gedankt.

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