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Siegfried Lenz meldet sich mit einem neuen Roman und schreibt dem Zeitgeist entgegen. von brigitte schwens-harrant

Ein Buch gegen die Zeichen der Zeit - die da sind: Personal- und Sozialabbau, menschliche Kälte, Ausländerhass, Karrieresucht - schrieb der 1926 geborene Schriftsteller Siegfried Lenz mit seinem neuesten Roman, der in die allzu bekannte Wirklichkeit eine zu erhoffende und eigentlich dringend nötige Möglichkeit einflicht.

Ziel oder Endstation

Der zur gegenwärtigen Verfasstheit der Gesellschaft antizyklisch denkende und handelnde Held heißt Henry Neff, ist 24 Jahre jung und hat doch kein Ziel vor Augen. Zumindest nicht im üblichen Sinn. Symptomatisch das Gespräch mit seinem Onkel, der schon etwas geworden ist bei der Deutschen Bahn: "Großer Gott, wenn ich daran denke, was ich mit vierundzwanzig schon hinter mir hatte; jedenfalls hatte ich meine Schiene schon gelegt, hatte ein Ziel vor Augen - hast du überhaupt ein Ziel?" Gemeint ist damit "die Position, auf die man hinarbeitet, die einem entspricht und in der man am meisten bewirken kann, oder doch glaubt, es tun zu können." Henrys Antwort: "Wenn ich das Wort Ziel' höre, dann denke ich gleich an Zielbahnhof und höre die Durchsage: Endstation, hier Endstation, alle aussteigen."

Völlig unverständlich, dass dieser durchaus begabte und vielseitige Mann nicht aufsteigen, nicht weiterkommen will und weder am großen Geld noch an tollen Jobs interessiert ist, sondern sich einfach nur wohl fühlen will bei der Arbeit. Und das tut er. Engagiert kümmert er sich im Fundbüro der Deutschen Bahn um verlorengegangene Gegenstände, mehr aber noch um die dazugehörigen Personen. Und freut sich, wenn ein Koffer wieder seinen Besitzer gefunden hat. Liebevoll charakterisiert Siegfried Lenz seinen Helden, für den er große Sympathie zu haben scheint. So wie Henry für ausländische Gäste, wie zum Beispiel den baschkirischen Mathematikprofessor Fedor Lagutin, den er kennen und schätzen lernt.

Besonders nett: Jeder Kunde muss nachweisen, dass ein Fundstück ihm gehört. Henry ist keineswegs verlegen um originelle Möglichkeiten: So lässt er einen Artisten tatsächlich sein Messer werfen, eine Schauspielerin Passagen aus ihrem Textbuch zitieren. Wie aber soll der Verlierer eines Liegestuhls nachweisen, dass er ihm gehört? Kreativität ist gefragt.

Alt oder Jung

Um Neff und das Fundbüro herum rauscht die Wirklichkeit und ihre Wasserfälle heißen Organisationsberater und Umstrukturierungen. Personalabbau bei der Bahn lässt auch diese Abteilung nicht ungeschoren davon kommen und Henrys Bitte, ihn selbst zu entlassen und dafür seinen älteren Kollegen nicht in Vorruhestand zu schicken, stößt auf taube Ohren. Ein Junger ist halt doch mehr wert.

Rückständig oder zukünftig

Traditionell und ruhig erzählt, ist der Grundton dieses Romans ohne jede Hektik. Die Zeit scheint angehalten, mag für die einen wie ein Märchen wirken, für die anderen rückständig, für einige vielleicht auch wie ein Hoffnungsschimmer im Sinne der vorsichtigen Worte, die Schriftstellerkollege Peter Härtling einmal formulierte: "Und wir Schreibenden können vielleicht helfen, können in unseren Gedichten und Geschichten vom friedfertigen Menschen erzählen, der einmal die Erde bewohnt: Ein Stück Kindlichkeit sollte er sich bewahren, Vorurteile und Neid sollte er sich aus dem Sinn schlagen. Zärtlichkeit und Neugier sollte er pflegen, Besitzgier und Machtstreben sollte er nicht mehr lernen und nicht mehr lehren." Worte, die Siegfried Lenz für sich zu beherzigen scheint.

Fundbüro

Roman von Siegfried Lenz

Hoffmann und Campe, Hamburg. 2003 335 Seiten, geb., e 22,60

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