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Hat das Theater noch einen Sinn?

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STÜCKE. Band t und 2. Von Max Frisch. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1962. 400 und 357 Seiten. Preis 17.80 DM je Band. - THEATER IM S.-FISCHER-VERLAG I., Frankfurt am Main, 1962. 673 Seiten. Preis 13.80 DM.

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STÜCKE. Band t und 2. Von Max Frisch. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main, 1962. 400 und 357 Seiten. Preis 17.80 DM je Band. - THEATER IM S.-FISCHER-VERLAG I., Frankfurt am Main, 1962. 673 Seiten. Preis 13.80 DM.

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„Nur dann ist die Zeit mit lieh selber Im Einklang, wenn die Menge den Mut hat zu großen Bekenntnissen und in die Theater stürmt, um sich zu Freiheit und Opfer, zu Haß und Leidenschaft zu bekennen.“ Das ist die hohe, die optimistische Auffassung vom Theater, und stammt von dem Theaterpoeten Jean Giraudoux. Ihr steht die tief pessimistische Meinung gegenüber, daß in unserer vom Wertezerfall gezeichneten Epoche das Theater in erschreckendem Maß unfruchtbar geworden und von den Trabantenkünsten Film und Fernsehen an den Rand gedrängt worden sei. Mehr als die anderen Künste an die Gesellschaft gebunden, die es als festgefügtes Ordnungs-tystem kaum noch gibt, habe das Theater seine Funktion und durch die „Inflation des Wortes“ seine eigentliche Wirkung verloren. Das Publikum nehme nur aus oberflächlicher Vergnügungssucht im Sinne der vielberedeten Entspannung am Theatergeschehen teil, wozu noch der gesellschaftliche Snobismus bei den zahllosen, an Umfang immer monströser werdenden Festspielen komme.

Ob man der optimistischen oder der pessimistischen Sicht zuneigt, hängt ganz vom Standort und der geistigen Einstellung des Beurteilenden ab. Tatsache ist, daß die Zahl der Theaterbesucher in allen Kulturländern dank der. Massenorganisationen zunimmt und die Theaterliteratur einen noch nie dagewesenen Umfang angenommen hat. Es ist immerhin bemerkenswert, wenn ein in voller Schaffenskraft stehender Dramatiker, wie der heute 51jährige Max Frisch, sein bisheriges dramatisches W;rk auf rund 750 Seiten gesammelt vorlegen kann.

Bei der kürzlich folgten Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Marburg an den ebenso als Dramatiker wie als Romanschriftsteller („b/omo faber“, „Stiller“) bedeutenden Schweizer sollte „sein Eintreten für Toleranz und Gerechtigkeit, sein Kampf gegen die totalitären Mächte und gleichzeitig sein eigenwilliger Realismus gewürdigt werden, der eine wertvolle Belebung von Bühne und Schrifttum gebracht hat“.

Ein Schlüssel zu dem dramatischen Werk Max Frischs ist im Nachwort zu seinem Stück „Als der ^Krieg zu Ende war“ zu finden. Darin heißt es: „Das Gebot, man solle sich kein Bildnis machen von Gott, verliert wohl seinen Sinn nicht, wenn wir Gott begreifen als das Lebendige in jedem Menschen, das Unfaßbare, das Unnennbare, das wir als solches nur ertragen, wo wir lieben; sonst machen wir uns immer ein Bildnis; nicht bereit, nicht willig und nicht fähig, einem einzelnen Gesicht gegenüberzustehen, stempeln wir ganze Völker ab und können ihnen nichts anderes zugestehen als die Fratze unseres Vorurteils, das immer eine Versündigung bedeutet.“

Liebe ist für Frisch der Ort, an dem das Gegenüber nicht sein muß, wozu wir es machen. „Liebe befreit aus jeglichem Bildnis... So wie das AH, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man liebt. — Nur die Liebe erträgt ihn so.“ Das Vorurteil dagegen ist es, das den Menschen, sein Ich wie ein Gefängnis umgibt. Dann ist er dazu verurteilt, dem Bild zu gleichen, das sich die anderen von ihm machen. Dieses Vorurteil gilt es zu widerlegen. In den Schauspielen „AI s der Krieg zu Ende war“ und „Andorra“ geht es darum, an Stelle einer von der Gesellschaft aufgezwungenen Existenz die wahre, den Menschen hinzustellen. Dort der russische Offizier, mit dem sich die Deutsche einläßt, hier der junge Andri, den sie fälschlich für einen Juden halten und zu Tode hetzen.

Die Angst, der sein zu müssen, für den die anderen einen halten, treibt immer wieder zum Aufbruch. Im Erstling, der Romanze „Santa Cruz“, ist es die Sehnsucht nach dem eigentlichen Leben, die Traumflucht nach dem südlichen Paradies als der Lebenswirklichkeit im Gegensatz zu dem im Schnee versinkenden Schloß. In „Graf O e d e r 1 a n d“, einer Art Lehrstück von der „Machtergreifung“, ist es die Flucht aus der grauen Einförmigkeit des Alltags, der Ausbruch aus der Ordnung, die Verwandlung des pflichtbewußten Staatsanwalts zum romantisch umloderten, gewalttätigen Grafen Oeder-Iand, des Pedanten zum Anarchisten. In der Komödie „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ ist der Spanier nicht der Erzverführer. Vergebens versucht er, den Frauen, den bloßen Episoden in seinem Leben, zu entfliehen, um seiner eigentlichen Berufung, der Geometrie, zu leben.

Frisch weiß sich eins mit seinem Landsmann Friedrich Dürrenmatt in der Ablehnung aller didaktischen Absichten des Theaters. Das Bühnenwerk beider ist ein Lehrtheater ohne Lehre. Beide zweifelh an der Beiehrbarkeit. Der Intellektuelle redet nur noch, aber bewirkt nichts mehr. Zweimal wählte Frisch den „Mann des Geistes“ zum Objekt schonungsloser Satire. In seiner tragikomischen Revue „Die chinesische Mauer“ ist „der Heutige“, der Intellektuelle, die Hauptfigur, in der Autor und Publikum zugleich auf die Bühne projiziert werden. Mit all seinem Wissen und Besserwissen weiß „der Heutige“ keinen Ausweg aus der chaotischen Situation der Welt. Der eigentliche Zweck der „Chinesischen Mauer“ soll nach des Autors Absicht sein, „eine Frage dermaßen zu stellen, daß die Zuschauer von dieser Stunde an ohne eine Antwort nicht mehr leben können — ohne ihre Antwort, ihre eigene, die sie nur mit dem Leben selber geben können“.

Auf einer etwas niedrigeren Ebene geht das Gericht mit dem Intellektuellen in dem Sketch „Die große Wut des Philipp Hotz“ vor sich. Dieser Philipp Hotz, Dr. phil., wird gezeichnet „als der arme Mann, der nicht tut, was er redet, und der daran leidet, daß ihm seine Tatunfähigkeit stets bewußt ist, und der schließlich, bloß damit die Welt (seine Frau) ihn ernst nehme, etwas Läppisches tut im vollen Bewußtsein, daß es läppisch sein wird“. Ein Stück von der grenzenlosen Unbelehrbarkeit und der Tatunfähigkeit ist „Herr Biedermann und die Brandstifter — ein Lehrstück ohne Lehr e“. Gemeint sind die Welt-brandstifter, die in allen Ländern zündeln und die Herr Jedermann, teils aus Dummheit, teils aus Feigheit unfähig dazu, die Folgen der Entwicklung durchzudenken, in einer Art psychischen Lähmung gewähren läßt — bis der Dachstuhl, das ganze Haus, die ganze Stadt der Feuerbrunst zum Opfer fallen.

letzt, da die Stücke Max Frischs gesammelt vorliegen, sind Vergleiche . möglich, läßt sich die Entwicklung eines der wenigen bedeutenden, deutschsprachigen Dramatiker klarer übersehen. Die etwas schematisierte Dürftigkeit seiner Figuren in früheren - Stücken, die intellektuellen Diskussionen, von denen sie erfüllt waren, sind nun einer ungebrocheneren, onreflektier-teren Umsetzung des Themas ins Mimisch-Dramatische gewichen. Am eindeutigsten bisher in seinem letzten großen Bühnenerfolg „A n d o r r a“. Die zahlreichen Einwände gegen das Thema bestehen zu Recht; aber ebenso die Meinung, daß Frischs Begabung der Menschenschilderung hier Szenen geglückt sind, wie sie das deutschsprachige Theater in den letzten Jahren nur ganz selten aufzuweisen hatte. In seiner Darmstädter Rede über Georg Büchner prägte Max Frisch das Wort vom „individuellen Engagement an die Wahrhaftigkeit“, der er mit seinem Werk dient, das nicht national und nicht international, sondern mehr ist — denn: „Unsere Heimat ist der Mensch; ihm vor allem gehört unsere Treue; daß sich Vaterland und Menschheit nicht ausschließen, darin besteht ja das große Glück, Sohn eines kleinen Landes zu sein.“

Frisch stellte einmal in einem Interview fest, daß dem deutschen (nicht dem Schweizer) Stückeschreiber nach dem Untergang der bürgerlichen Gesellschaft im Tausendjährigen Reich der Partner fehle. Theater sei aber stets Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, „die ihr Bekenntnis lebt oder korrumpiert“. Es bleibe demnach nur das absurde Theater. Entgegen dieser etwas kategorischen Feststellung vollziehen Autoren und Bühnen keineswegs eine entscheidende Hinwendung zum „Absurden“; vielmehr herrscht auch weiterhin ein richtiger Stilwirrwarr aus realistischen, poetischen und absurden Elementen. Uberlebt hat sich lediglich das rein psychologische, historische und ideologische Theater, das Gesellschafts- und Dialogdrama. Das zeigt recht anschaulich der erste Band einer von S. Fischer veröffentlichten Anthologie des zeitgenössischen Dramas.

Vertreten sind mit durchweg bemerkenswerten und in Aufführungen erprobten Bühnenstücken drei Amerikaner, zwei Engländer, zwei Franzosen, ein Italiener und ein Schweizer. Der Bogen ist weit gespannt. Er reicht, um nur einige zu nennen: vom Realismus des Italieners Giovanni T e s t o r i in „A r i a I d a“ (trauriges Schicksal eines alternden Mädchens in festgefügter Gemeinschaft), des Engländers Arnold Wesker in „Tag für T a g“, des Amerikaners Miliard L a m-p e 11 in der Dramatisierung des Romane von John Htrsey, „Die Mauer“ (Warschauer Ghettoaufstand) über Zwischenstufen wie Robert B o 11 s Schauspiel der Geistesfreiheit „Thomas M o r c“ (mit einem kostümierten Kommentator, der gleich mehrere Rollen verkörpert und die Verbindung zur Gegenwart herstellt) und Jack Richardsons „Galgenhumor“ (zwei Einakter; ein knapp vor dem Gehängtwerden Stehender und ein Henker setzen sich mit dem Tod auseinander; der Amerikaner Richardson entwickelt darin einen vom Wort . her inspirierten ganz modernen'Bühnenstil) zum Absurden: „Die Veilchen“ des französisch dichtenden Libanesicrs Georges Schehadc (ein Kernphysiker will aus Veilchen Energiequellen gewinnen und die Welt aus Protest gegen die wissenschaftliche Entwicklung im Atomzeitalter in die Luft sprengen), „Der amerikanische Traum“ Edward A 1 b e e s (ein grotesker Alptraum von der Pathologie des amerikanischen Alltags).

Bis auf eines (Miliard Lampell, „Die Mauer“) wurde keines dieser Stücke bisher auf einer Wiener Bühne aufgeführt. Der Band ist nicht nur eine Fundgrube für Dramaturgen. Man kann auf die Fortsetzung der Reihe gespannt sein.

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