Hauptbahnhof der Probleme

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"Meßmers Reisen" ist eine radikale Offenlegung Martin Walsers eigener Befindlichkeiten: schonungslos - vor allem gegenüber sich selbst.

Nein, ein weises, beständiges Alterswerk war das wahrlich nicht, das uns Walser in letzter Zeit vorgelegt hat.

Eher könnte man sagen, dass er mit jedem neuen Buch für eine Überraschung gut war: "Finks Krieg", der Amoklauf eines Beamten gegen die Mühlen der Bürokratie, "Ein springender Brunnen", Walsers elegische Autobiografie und vielleicht sein schönstes Buch, "Der Lebenslauf der Liebe", ein brutal realitätshaltiger Roman um eine ruinierte Millionärsehe, und im letzten Jahr der skandalträchtige Schlüsselroman "Der Tod eines Kritikers", der wochenlang die Gemüter erhitzte. Immer alles ganz anders also und immer Bücher, die mit ungewöhnlicher Verve und sprachlicher Wucht geschrieben waren, die polarisierten, die die Auseinandersetzung suchten und sich immer wieder einem neuen, ungewohnten Thema stellten.

Das Denken verlangsamen

Und nun, nachdem uns Walser so aufgewühlt, irritiert und auch provoziert hat, will er das grelle Weltengeschiebe seiner letzten Bücher offenbar anhalten und sich auf jene Fähigkeiten besinnen, die den Gewinn der Walser-Lektüre meist ausmachten: "Durch Schreiben kann man das Denken verlangsamen. Wenn ich mein Denken heute nicht durch Schreiben bremsen würde, könnte es mich irgendwo hinreißen, wo ich nicht hin will."

Zeit für ein leises Buch

Könnte es sein, dass Walser in seinem Ingrimm der letzten Jahre als Medienkritiker irgendwo anlangte, wo er eigentlich nicht hin wollte? Hat er gespürt, dass es höchste Zeit für ein leises Buch war? Das Notat stammt aus dem 1985 erschienenen Band "Meßmers Gedanken", der nun von "Meßmers Reisen" fortgesetzt wird. Wer ist Meßmer? Ein Alter Ego zu Walser, ein Schriftsteller, der das Wanderleben eines fahrenden Gesellen führt, indem er von einer Lesung zur nächsten reist. Das mag der äußere Anlass für den Titel gewesen sein.

In Wirklichkeit führt Walser "Meßmers Gedanken" getreulich fort: Er setzt dort ein, wo der erste Band aufgehört hatte, Mitte der 80er Jahre, und umfasst die Zeit bis zum Ende der DDR.

Auch an der Denkrichtung, die im ersten Band vorgegeben war, hat sich nichts geändert: Vom Schmerzstoff war darin die Rede, aus dem - und aus nichts anderem - sich dieses Buch zusammensetzte. Nun führt uns Walser in das, was er die Schreckenskammer des Alltags nennt, und auf die er empfindlicher denn je reagiert: "Ausgehöhlt von der Schneide der Zeit, nimmt das Dröhnen in mir zu. Ich bin ein Hallraum, daß Vogelfüße donnern."

Es sind Antworten auf dieses Dröhnen, die Walser hier in Form von Sentenzen, Gedankenskizzen, Aphorismen gibt. Gesammelte Erfahrungen, Beobachtungen aus seinem Privat- und Berufsleben, die ein aufschlussreiches Selbst- Porträt ergeben. Typisch Walser, dass er sich über ihre Bedeutung und den ihm zugewiesenen Standort keine Illusionen machen will.

Nachrichten vom Unterlegenheitsspezialisten Walser: "Unverständlich sein gelingt mir nicht, darum ist jeder über mich erhaben. Klar." "Das Notieren ist das provisorische Abdichten eines Lecks bei einem Schiff, das untergehen wird. Man braucht eine Beschäftigung." "Ich bin die Karawane und ich bin die Wüste, durch die sie zieht, und ich bin die Schar der Geier, die sich auf den Kadaver, der ich bin, stürzt. Entfaltung der Autarkie."

Selbsterkundung

Schreiben als Versuch zu überleben also, aber auch als Rückzug, als Bewusstwerdung der eigenen Ohnmacht. Es sei ein Mangelerlebnis, das ihn zum Schreiben bringe, hat Walser mehrfach betont. Er antworte auf die Wirklichkeit, weil ihm etwas fehle, und er könne nur schreibend auf sie antworten. In seinen Romanen schreibe er die mangelhafte Wirklichkeit so lange um, bis sie ihm erträglicher werde.

Vielleicht ist es gerade das, was den Romancier Walser so anziehend und lesenswert macht: Dass er mit der Schwere namens Wirklichkeit spielt, dass er sie sprachlich in den Griff bekommt und es ihm gelingt, sie durch Ironie zu besiegen. Doch jene "Entblößungs-Verbergungsmöglichkeit", die er sich im spielerischen Umgang mit seinen Romanfiguren schafft, muss in Meßmers tagebuchartigen Reflexionen naturgemäß zurücktreten. Ein Verlust, wie man meinen möchte, der aber zugleich einen Gewinn birgt: Der ironische Betrachter weicht dem unerbittlichen Zeitdiagnostiker, der Triumph der Sprachillusion dem Eingeständnis der Niederlagen.

Kein Zweifel, "Meßmers Reisen" ist seit langem Walsers radikalste Offenlegung der eigenen Befindlichkeiten, ein Buch, das die Dinge schonungslos benennt, am schonungslosesten aber gegenüber sich selbst verfährt. Walsers skrupulöse Selbsterkundung könnte dazu taugen, das verlorengegangene Vertrauen gegenüber diesem Autor wiederherzustellen.

"Ich bin der Hauptbahnhof der Probleme. Auf Gleis eins fährt ein der Tod, bitte nicht einsteigen. Vorsicht an Gleis zwei, es fährt ein die Liebe, die hier nicht hält. In Kürze fährt auf Gleis drei der verspätete Haß ein. Bitte, Vorsicht bei der Einfahrt des Hasses."

Messmers Reisen

Von Martin Walser

Suhrkamp Verlag, Frankfurt M. 2003

191 Seiten, geb., e 18,40

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