6569978-1950_15_14.jpg
Digital In Arbeit

Heilung durch die Landschaft

Werbung
Werbung
Werbung

Während ich mich so meinem Amt hingab und die im Krieg verschollenen und oft verwandelten Freundschaften wieder auftauchten, sich neu knüpften oder langsam zerfielen, während die wachsende Inflation das tägliche Leben immer schwerer und bodenloser machte und das Reich immer tiefer in den Abgrund der Streiks, der Aufstände, der Machtlosigkeit versank, begannen sich in meinem Innern die Gestalten und Bilder langsam zu formen, die nach einer langen Pause mich bedrängten und nach einer Gestaltung verlangten. Es war kein stiller und ausgeruhter Boden, auf dem sie wuchsen. Es war immer noch ein verstörtes Herz, das ich in mir trug, von Bitterkeit erfüllt und dem Unwillen, Schuld zu suchen, wo sie allein zu finden war. Und das Buch, das ich schrieb, war eigentlich nur eine wilde Anklage gegen die Zeit und ihre Erscheinungen, noch von Feuer und Blut des Krieges genährt, und auf eine unklare Weise mit einer religiösen Inbrunst getränkt, die nichts mit einer Religion der Liebe zu tun hatte, sondern von unklaren pantheistischen Symbolen erfüllt war, in denen der „grüne“ Gott meiner Jugendjahre sich über einer verfallenden Erde erhob, wie unklare Begriffe sich über das Alltägliche und Herkömmliche erheben sollten.

Ich wußte wenig vom Expressionismus,1 aber gleichsam ohne mein Wissen floß der leidenschaftliche Strom dieser Kunst-und Weltanschauung in meine Blätter hinein. Das Jagende, sich überstürzende des Stils, die wütende Häufung von Attributen und Bildern, weil keines der Leidenschaft der Aussage genügte, die krankhafte Bekennung und Hinaus-schleuderung der Seele, die Mißachtung aller gebändigten Form. Und im Grunde doch nur ich selbst, mühsam umrahmt von schattenhaften Nebenfiguren, und das Ganze in einer lodernden und heidnischen Vernichtung endend, im Tempelbrand, von eigener verstörter Hand entfacht, um Gott eher zu vernichten als ihn der Masse zu gönnen. Ein völlig unsoziales, ja fast ein asoziales Buch, unfertig und fast roh, und doch für mich eines der notwendigsten Bücher, die ich zu schreiben hatte, weil mit ihm ein Teil der dunklen und gefährlichen Kräfte in mir ausbrannte und als eine Asche zurückblieb, die das kommende Feld düngen sollte.

Das Honorar, das ich für die erste Auflage erhielt, reichte, als es ausbezahlt wurde, gerade für einen Sommermonat auf der Kurischen Nehrung, und auch dieses war wohl kein Zufall, daß ich nach diesem Buch nicht in meinen Heimatwald ging, sondern zum erstenmal in eine fremde Welt. Vielleicht verlangte die Seele, ohne es zu wissen, nach einem anderen Raum, nachdem sie den ursprünglichen in einem Paroxismus des Fiebers und des Rausches eben erschöpft hatte. Vielleicht trachtete sie, ohne es zu wissen, nach Heilung, wie man eben Genesende aus ihrer Umgebung entfernt und in einen fremden Bezirk bringt.

Und dies war nun allerdings eine fremde Erde, so fremd, daß es ihresgleichen in Deutschland und sogar in der Welt kaum gibt. Dieser rätselhafte Streifen weißen Sandes, zu Bergen getürmt, zum Teil von Menschenhand mühsam gebändigt, zum Teil noch immer auf einer unheimlichen Wanderung begriffen, Meer und Haff voneinander scheidend, trägt auf eine ergreifende Weise die Züge der Ewigkeit und ist mehr als jede andere Form der Natur angetan, den Menschen an die Vergänglichkeit und Verlorenheit seines Lebens zu erinnern. Wenn irgendwo auf dieser Erde noch Einsamkeit ist, so ist sie hier, und es erfüllt das Herz mit einem unvergeßlichen Schauer, auf dem Grat dieser weißen Gebirge zu sitzen und den Sand lautlos neben sich in den Abgrund rieseln zu sehen, der wie ein Abgrund der Zeit ist. Oder vor sich aus dem unaufhaltsam Wandernden die braunen Reste der Särge wieder auftaudien zu sehen, die vor Jahrhunderten in eine anscheinend feste Erde gesenkt wurden, und das Feste löst sich doch auf und war ein Trug wie das meiste auf dieser Erde.

Und auch dieses gehört dazu, daß das seltsamste Tier unseres Landes hier zu Hause ist, der Elch, so zu Hause, daß alles Menschenwerk von ihm nur geduldet scheint, wie kleine Mieter geduldet werden, die in einem riesigen Hause wohnen. Und selbst der Gleichgültigste, ja der Abgestumpfteste dieser Mieter wird wohl in seinem Alltagsherzen erschauern, wenn er in der Abenddämmerung aus den niedrigen Kiefern der Düne heraustritt, und auf dem messerscharfen, in ein unwirkliches blaues Licht getauchten Grat der Düne steht die ungeheure Gestalt dieses Tieres, unbeweglich, und wendet das schwere Haupt nach Osten hin, wo die Leuchtfeuer aus der Dämmerung auftauchen, als erinnerte es sich der grauen Vergangenheit, ja als wisse es noch von der Ewigkeit, die hier war, als der Geist Gottes über den Wassern schwebte. Und niemand wird die Gebärde dieses Hauptes vergessen, wie es sich langsam, in einer nicht achtenden Majestät, dem Menschen zuwendet, ihn mit einem kalten Blick streift, als sei er ein totes Stüde Holz, und wie die Erscheinung dann langsam den weißen Hang hinuntersteigt, in eine ungeheure Einsamkeit hinein, und nur die dunkle Fährte bleibt zurück, die es in den toten Hang gräbt, und sie sieht aus, als habe ein Wesen der ersten Erdentage sie schweigend zurückgelassen.

Hier war es wohl nun, wo man „Ewigkeit beginnen“ konnte. Wo die alten Fischer noch Kurisch sprachen und vor Jahrhunderten noch die Meilerhütten im Urwald gestanden hatten. Wo man auf einer Tageswanderung nicht einen einzigen Menschen sah und die Sprache einem als ein Geschwätz erschien, nur geschaffen, um die Angst vor diesem Antlitz der Ewigkeit zu betäuben. Und bis Mitternacht konnte man auf der Düne sitzen und den weißen Lichtbalken zusehen, wie sie von dem Leuchtturm ausgingen, der auf dem Urbo Kalns stand, und Urbo Kalns hieß der „Bärenberg“. Wie sie gleich Flügeln einer riesigen Mühle durch die weiße Nacht fegten und das unwirkliche Licht über einen dahinglitt und hinter einem versank. Und drüben am litauischen Ufer des Haffes öffneten und schlössen sich die Augen der kleinen Leuchtfeuer, in regelmäßigen Abständen, jedes von dem andern verschieden, und aus dem ungeheuren Himmelsraum schössen die goldenen Bahnen der Sternschnuppen lautlos in die schwärzliche Tiefe, und es war, als müßte man hören können, wie sie in Haff und Meer versanken, gleich glühendem Eisen, das sich zischend in Wasser taucht.

Fünf lange Wochen, die das verstörte Herz erfüllten, und einmal würde schon die Zeit kommen, in der es nach dem Erfüllten greifen und es aufblättern würde wie ein Buch der Ewigkeit.

Ich habe mich immer gescheut, in meinen Büchern diese Welt des Schweigens aufstehen zu lassen. Es kam mir vor, als dürfe keine Menschenhand daran rühren, wie man ein totes Antlitz nicht beschreiben sollte. Nur einmal, in der Geschichte des Mannes Joneleit, habe ich ganz behutsam versucht, diese Welt als einen Rahmen um ein menschliches Schicksal zu legen, aber der Rahmen floß unter meinen Händen mit dem Bilde zusammen und wurde selbst das Schicksal, das ich doch aus einem menschlichen Herzen hatte aufsteigen lassen wollen. Und ganz spät erst, im zweiten Band der „Jeromin-Kinder“, habe ich noch einmal diese Welt beschworen, und der alte jüdische Arzt, der schon vom Tode gezeichnet ist, war nun wohl jemand, den ich ruhig in dieses große Schweigen hineinstellen konnte, das wie das Schweigen der Wüste war.

Ich werde es nicht wiedersehen, nachdem Menschenhände alle Grenzsteine versetzt haben, auch die der Ewigkeit, aber unter den wenigen Bildern, die ich in den letzten Kammern des Herzens bewahre, liegt auch dieses. Das Bild einer ewigen Landschaft, die an mir geformt hat, als ich längst glaubte, meine letzte Form geprägt zu haben. Aus den Erinnerungen Ernst Wiecherts „Jahre und Zeiten“, Eugen-Ren tsch-Verlag, Erlenbach-Zürich.;

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung