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Heilung durch Medikamente

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Viele Ursachen gibt es für das Auftreten von Depressionen, aber auch eine Reihe von Hilfen und von vorbeugenden Maßnahmen...

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Viele Ursachen gibt es für das Auftreten von Depressionen, aber auch eine Reihe von Hilfen und von vorbeugenden Maßnahmen...

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DieFurche: Nimmt die Depressivität in unserer Gesellschaft zu? Univ. Prof. Walter Pöldinger: Das ist schwer zu beantworten. Das ist nämlich eine Frage der Epidemiologie. Da gibt es zunächst die administrative Epidemiologie: Man erfaßt die Menschen, die einen Arzt, ein Spital, eine Ambulanz oder eine sonstige medizinische Einrichtung konsultieren. Solche Daten liegen vor - und zwar relativ neue von der Weltgesundheitsorganisation. Aus ihnen geht hervor, daß etwa 18 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens eine Depression durchmachen. In den Praxen von Ärzten wiederum registriert man, daß 16 Prozent der Patienten auch depressive Symptome haben. Die Ergebnisse einer Studie, die Professor Gaspar in Basel und Professor Dilling für München Land gemacht haben, bestätigen das. Auch da ergab sich ein Anteil von 16 bis 17 Prozent von Patienten mit depressiven Symptomen.

DieFurche: Haben also 18 Prozent der Bevölkerung mit Depressivität zu kämpfen?

Poldinger: Nein. Denn es ist natürlich so, daß ein Großteil der Depressiven gar nicht zum Arzt geht. Viele haben Schuldgefühle und glauben, sie müßten eben jetzt für begangene Fehler büßen. Für die Verbreitung der Depressivität in der Gesamtbevölkerung gibt es allerdings Anhaltspunkte. Einer meiner Kollegen, der Oberarzt Wacker, hat dies in seiner Dissertation untersucht. Er ist der Frage nachgegangen, wie hoch der Anteil Depressiver an der Bevölkerung von Basel Stadt ist. Das Ergebnis: 50,2 Prozent gaben an, schon an einer depressiven Verstimmung, die länger als zwei Wochen anhält (das ist die internationale Definition für das Auftreten einer Depression), gelitten zu haben. Professor Angst wiederum hat in Zürich die Stellungspflichtigen in einem Fünf-Jahres-Rhythmus befragt und parallel dazu eine Gruppe weiblicher Personen (in der Belation eins zu zehn) und ist auf einen Wert von 25 Prozent gekommen. Zieht man also all diese Erhebungen heran, so kann man wohl sagen, daß etwa ein Drittel aller Menschen irgendwann im Leben eine Depression durchmacht.

DieFurche: Sind damit die Menschen heute eher depressiv alsfrüher? PöLDINGFLR: Aus früheren Zeiten haben wir keine Erhebungen. Wir kennen aber eine der ältesten Methoden der Melancholie-Behandlung, nämlich die Musik-Therapie, schon aus dem Alten Testament: David hat die Melancholie des Königs Saul durch das Saitenspiel geheilt. Diese Krankheit gab es also schon damals. Aber über die Häufigkeit ist schwer etwas zu sagen.

DieFurche: Viele behaupten aber, Depressionen nähmen heute zu... pöldinger: Wirklich erhärten wird man das erst können, wenn mein die Untersuchungen von heute in zehn oder 20 Jahren wiederholt. Etwas nimmt aber offenbar derzeit zu: das „Burnout-Syndrom”. Viele Menschen leiden am Ausgebranntsein.

DieFurche: Wie entsteht dieses Syndrom?

Pöldinger: Jedenfalls nicht davon, daß man sehr viel arbeitet. Von vieler Arbeit wird man müde. Das Syndrom tritt nur dann auf, wenn viel Arbeit mit emotionalen Konflikten verbunden ist: Wenn es also Spannungen, Streitereien gibt. Etwa das Phänomen des Job-mobbing: In der wirtschaftlich angespannten Zeit ekelt man Leute aus der Arbeit. Sehr häufig kommt dieses Symptom heute bei Lehrern, Ärzten und Pflegepersonal (besonders auf Intensiv-Stationen, wo sich die Menschen einfach überfordert fühlen) vor.

DieFurche: Was hilft gegen Depressionen?

Pöldinger: Eine mittelschwere oder schwere Depression muß man zuerst mit Medikamenten behandeln. Dann ist natürlich auch die Gesprächstherapie sehr wichtig.

DieFurche: Was bewirken die Medikamente?

Pöldinger: Eine Normalisierung des Stoffwechsels. Bei Depressionen tritt nämlich aufgrund innerer Ursachen (bei einigen Menschen ist dies genetisch bedingt) ein Mangel an gewissen Überträgerstoffen auf: vor allem Serotonin und Noradrenalin. Sie sind verantwortlich für die Übertragung von Impulsen von einer Nervenzelle zur anderen. Durch Medikamente kann man Abhilfe schaffen. Ein Mangel an diesen Stoffen führt zu Depression, Angst, Schmerz und zu Schlafstörungen. Außerdem kommt es zur Störung der Impulskontrolle...

DieFurche: Was.ist das? pöldinger: Es ist die Fähigkeit, Regungen unter Kontrolle zu halten, also etwa eine Aggression nicht ausufern zu lassen. Wenn Serotonin fehlt, leidet diese Kontrolle: Fremd- und Selbstaggression nehmen zu, das Trink- und Eßverhalten wird anormal (das kann sowohl Magersucht wie Bulimie, aber auch Trunksucht bedeuten). Auch die Spiel- und Kaufsucht sind in Zusammenhang mit einem Serotonin-Mangel zu sehen.

DieFurche: Welche Ursachen gibt es insgesamtfür Depressionen? pöldinger: Es gibt zunächst genetische Gründe. Weiters kann man Ursachen in der frühkindlichen Entwicklung registrieren. Kinder, die recht lieblos aufwachsen, sind gefährdet, später Kontaktschwierigkeiten und Depressionen zu haben. Weiters gibt es akute Traumata aus der Umwelt. Da spricht man von reaktiver Depression auf ein schmerzliches Erlebnis. Und schließlich gibt es den chronischen Anlaß, das erwähnte „Burnout-Syndrom”. Ich erzähle ihnen ein Beispiel für diese Erschöpfungsdepression: Eine junge Frau, Mutter von Kindern, würde gerne zu Hause bleiben, muß aber arbeiten, weil sich ihr Mann sonst keine teuren Autos leisten könnte. Diese Autos dienen ihm aber dazu, bei seinen Freundinnen Eindruck zu schinden. Sie ist in einem emotionalen Dilemma. Zuerst reagiert sie mit psychosomatischen Symptomen. Ein relativ unbedeutendes Trauma - der Hund wird vor ihren Augen überfahren - löst dann die Depression aus.

DieFurche: Stehen psychosomatische Erscheinungen also in Beziehung zur Depression?

Pöldinger: Man bezeichnet solche Symptome auch als larvierte Depression. Diese körperlichen Symptome sind wichtig, weil sie die Leute darauf aufmerksam machen könnten, daß sie depressiv sind. Viele merken das nämlich nicht. Es ist übrigens interessant, daß die Depression tabuisiert ist - zu Unrecht. Denn es sind gerade sensible, empfindsame, gewissenhafte und wertvolle Menschen, die für Depressionen anfällig sind. Gemütsanalphabeten bekommen keine Depressionen.

DieFurche: Was kann für Depressive außer der medikamentösen Behandlung getan werden? pöldinger: Man muß viel mit dem Patienten reden, ihn für die Behandlung gewinnen. Ein Behandlungsplan muß entworfen werden, denn nicht jedes Medikament wirkt. Das muß der Patient wissen. Wenn die Situation durch Medikamente etwas stabilisiert ist, gilt es,'die Probleme aufzuarbeiten. Steckt der Patient in einer lebensbelastenden Situation, so ist auch zu überlegen, wie diese zu ändern sei.

DieFurche: Wer behandelt Depressionen?

Pöldinger: Praktische Ärzte sind durchaus in der Lage, sie zu behandeln. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, daß ein Arzt mit einem nicht ärztlichen Psychotherapeuten zusammenarbeitet. Jedenfalls darf man schwere Depressionen nicht ohne Medikamente behandeln. Das verkürzt das Leiden erheblich. Fast jede Depression klingt übrigens spätestens nach mehreren Monaten spontan ab. Nur zwei Prozent der Depressionen sind chronisch.

DieFurche: Ist man nach einer abgeklungenen Depression geheilt? pöldinger: Viele Depressionen haben die Tendenz wiederzukommen. Heute gibt es allerdings Medikamente, um neuerliche Depressionsphasen zu verhindern, zu verkürzen oder abzuschwächen. Hier werden zum Beispiel Lithium-Salze eingesetzt.

DieFurche: Kann man in der Lebensführung vorbeugend etwas tun? Pöldinger: Ja. Man muß versuchen, die emotionale Seite der Person auch auszuleben. Ein Mensch, der sich seiner Gefühle nicht bewußt ist, ist auch gefährdet, depressiv zu werden. Was wir auch pflegen müssen, ist eine Gesprächskultur. Sie geht uns derzeit verloren. Im Fernsehen hauen sich Diskussionsteilnehmer nur noch Gesprächsbrocken an den Kopf.

In den Familien wird viel zu wenig geredet. Eine Untersuchung an berufstätigen Ehepaaren ergab, daß sie pro Tag im Durchschnitt 15 Minuten miteinander reden. Hat einer der Ehepartner schon einen Suizidversuch hinter sich, so reduziert sich der Austausch auf sieben Minuten! Zu wenig Kommunikation führt auch zur Depression und zur Selbstmordanfälligkeit. Was wir also brauchen, ist das amikale Gespräch. Und dieses kann nur stattfinden, wenn Gefühle mitsprechen.

DieFurche: Muß man selbst Erfahrungen mit Depressionen haben, um einem Depressiven helfen zu können? pöldinger: Ich glaube, daß dies gut ist. Das merkt man daran, daß sich Selbsthilfe-Organisationen sehr bewähren. Wer selbst Depressionen durchgemacht hat, bringt recht viel Verständnis für diesen Zustand auf.

DieFurche: Was soll man Familienangehörigen von Depressiven raten? pöldinger: Die Familie glaubt immer, daß der Depressive, der da im Bett herumliegt und sich zu nichts aufrafft, einfach nicht will. Ihnen muß man sagen: Der Depressive kann nicht wollen. Es hat keinen Sinn, wenn die Angehörigen dem Patienten dann auf die Schulter klopfen und ihm sagen. „Beiß dich zusammen!” Das treibt ihn nur noch mehr in die Verzweiflung. Es hat auch keinen Sinn, den Depressiven in ein Konzert oder zu einer Belustigung zu schleppen. Das ist sinnlos.

DieFurche: Was hilft aber? pöldinger: Geduldig zuzuhören und auf das einzugehen, was die Person erzählt - auch wenn es wahnhaft ist

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