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Heilung durch Sinnfindung

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Die Logotherapie, diese von Viktor Frankl entwickelte Methode der Psychotherapie, hat weltweit leidenden Menschen neue Perspektiven eröffnet.

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Die Logotherapie, diese von Viktor Frankl entwickelte Methode der Psychotherapie, hat weltweit leidenden Menschen neue Perspektiven eröffnet.

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Viktor E. Frankl, Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, begeht am 26. März 1995 seinen 90. Geburtstag. Wenn wir uns hier aus diesem Anlaß, wohl nur in aller Kürze, mit der „dritten Richtung der Wiener psychotherapeutischen Schule” (W. Soucek) (nach der Psychoanalyse Freuds und der Individu-alpsychologie Adlers) beschäftigen, dann haben wir es mit einem grundlegenden weil anthropologisch fundierten Neuansatz in der Geschichte der Psychotherapie zu tun.

Das bezeugt uns kein Geringerer als Manes Sperber, der nach seinem eigenen Ringen um eine Standortgewinnung gegenüber Marxismus und „deutender Psychologie” (Freud, Adler) sich zu der Gültigkeit der philosophischen Frage nach dem Sinn unseres Tuns, unseres Leidens und unseres Strebens bekannt hat. Adler und die meisten großen Psychologen unserer Zeit hätten, so bemerkt er einmal („Alfred Adler oder das Elend der Psychologie”, Wien 1979), die Notwendigkeit eines Akzentwechsels tiefenpsychologischer Thematik verkannt. Es sei jedoch bemerkenswert, daß der Psychiater Viktor E. Frankl, der durch die Hölle der Konzentrationslager gegangen ist, die Logotherapie gegründet hat, die dem Patienten helfen soll, den Sinn seines Lebens zu finden.

Frankls Logotherapie geht jedoch nicht darauf aus, die Psychotherapie im bisherigen Wortsinn zu „ersetzen”, sondern sie möchte sie nur „ergänzen”. Ergänzen will sie aber auch das Menschenbild zu einem Bild vom „ganzen” Menschen. Den klassischen Tiefenpsychologien steht die Logotherapie „integrativ erhöhend” (P. Polak) gegenüber, und das heißt, daß sie den Schritt über das Psychische hinaus auf das Noetische, das Geistige, hin wagt.

Im Unterschied zur Neurose als einer psychogenen Erkrankung geht die von Frankl diagnostizierte „noo-gene” Neurose (griechisch Nous = Geist) nicht auf Komplexe und Konflikte im herkömmlichen Sinne zurück, sondern auf Gewissenskonflikte oder Wertkollisionen und schließlich auf eine „existentielle Frustration”, auf die Frustration des phänomenologisch erschlossenen „Willens zum Sinn”, die ein Sinnlosigkeitsgefühl zur Folge hat.

Die Logotherapie ist spezifische Therapiemethode in Fällen, in denen eine Einzelperson vom Sinn- Verlust betroffen ist, wenn die existentielle Frustration, eben als noo-gene Neurose, pathogen geworden ist. Die Logotherapie nimmt sich aber auch, indem sie den Menschen als ein Wesen „auf der Suche nach Sinn” auffaßt, eines „Leidens” an, das eigentlich gar keine Krankheit ist. An und für sich ist das Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem Leeregefühl, einem „existentiellen Vakuum”, einhergeht, gar keine Neurose. Die nicht pathogen gewordene existentielle Frustration erhebt jedoch nicht weniger den Anspruch, beachtet zu werden. Sie kann allerdings latent bleiben und daher leicht übersehen werden..

Was hier erforderlich erscheint, ist die Erweiterung des psychotherapeutischen Aufgabenbereichs. Das bedeutet, daß es auf eine Sichtweise und Einstellung ankommt, für die Frankl schon 1945 von seinem Lehrer Kauders die Augen geöffnet worden ist, nämlich, „sich dem geistigen Massenelend zu stellen, das hier und heute um uns ist”.

Und 1947 sagt dann auch Frankl, „in einer Zeit aber wie der heutigen, in der sich die Massen in einem seelischen Notstand befinden, ist es nötiger denn je, dem seelischen Notstand auch zu steuern”. Schon damals zeichnete sich für Frankl so etwas wie die Forderung nach einer sozialen Psychotherapie beziehungsweise die Notwendigkeit einer „kollektiven Psychohygiene” ab. Hier wird die Logotherapie zur Existenzanalyse als Therapie „kollektiver Neurosen”.

Die kollektive” Neurose der Gegenwart zeichnet sich durch die vier Symptome aus: die provisorische Daseinshaltung, die fatalistische Lebenseinstellung, das kollektive Denken und den Fanatismus. Die Symptome lassen sich zurückführen auf Flucht vor der Verantwortung und Scheu vor der Freiheit, den beiden Existen-tialien des Menschen. Der heutige Mensch ist, wie Frankl feststellt, „geistesüberdrüssig, und dieser Geistesüberdruß ist das Wesen des zeitfenössischen Nihilismus”. In diesem usammenhang weist Frankl zur Charakterisierung der „Pathologie des Zeitgeistes” auch auf das massenneurotische Syndrom hin, das sich aus der Trias Drogenabhängigkeit, Aggression und Depression zusammensetzt, Erscheinungen, denen gleichfalls das Sinnlosigkeitsgefühl zugrunde liegt.

Haben wir es nun bei der gegenwärtigen „existentiellen Frustration” mit einer „soziogenen” Neurose zu tun, stellt sich im Hinblick auf eine kollektive Psychohygiene die Frage der Ätiologie. Frankl bietet hier die „epidemiologische” Erklärung an: Die Industriegesellschaft ist unentwegt darauf aus, „womöglich alle menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, und ihre Begleiterscheinung, die Konsumgesellschaft, ist sogar darauf aus, Bedürfnisse zu erzeugen, um sie dann befriedigen zu können. Nur das menschlichste aller menschlichen Bedürfnisse, das Sinn-Bedürfnis, geht bei alledem leer aus. Die Industrialisierung geht mit einer Urbanisierung einher und entwurzelt den Menschen, indem sie ihn den Traditionen und den durch die Traditionen -vermittelten Werten entfremdet.” (Logotherapie und Existenzanalyse, 1994, S. 268.)

Es ist nicht zu übersehen, daß heute auch schon die Sozialwissenschaft Ratlosigkeit und Unsicherheit der gegenwärtigen Gesellschaft als etwas Neuartiges registriert. Gerhard

Schulze analysiert in seinem Buch „Erlebnisgesellschaft” (Frankfurt/-New York, 1993) die psychische Dimension einer Form der Vergesellschaftung, „die zuvor nicht gekannte Anforderungen an das Orientierungsvermögen der Menschen stellt” (Die Zeit).

„Erlebnisansprüche wandern”, so heißt es, „von der Peripherie ins Zentrum der persönlichen Werte; sie werden zum Maßstab über Wert und Unwert des Lebens schlechthin und definieren den Sinn des Lebens.” (Schulze)

Da ist dann aber auch noch als Produzent solcher Maßstäblichkeit das künstlerische Schaffen anzuführen, das eben das Absurde, das Sinnlose in eindrücklicher Weise manifestiert. Es muß hier genügen, das Problem Thomas Bernhard aufzugreifen. Er ist die „Chiffre einer Epoche” (Franz Richter in (furche 32/1991). Es tritt'in ihm kein platter Pessimismus zutage, sondern jener leidvolle Nihilismus. Hier trifft Hellmut Butterweck (furche 46/1984) die kaum besser zu formulierende Feststellung: „In der gewaltigen Projektion der Bernhardschen Neurose auf die Welt erkennt die so viel von sich, daß sie in die Bewunderung flieht, oder ins Lachen.”

Für Frankl wurde, so lesen wir in einer Würdigung seines Wirkens (Ärzte-Woche, 25. Mai 1988), eine Prophezeiung des Philosophen Oswald Spengler eine Realität: „Bevor das Jahrhundert zu Ende geht, werden Menschen von tiefem Geist sich mehr dem Nachdenken über den Sinn des Lebens zuwenden als der Wissenschaft und der Technik, die heute die Menschen so fesselt.”

Wie immer es mit dieser Aussage und ihrer zeitlichen Erfüllung stehen mag, das Ziel ist unverrückbar vorgegeben und der Weg ist bereits beschritten, ob es sich zum Beispiel um die Kulturkritik eines Naturwissenschaftlers vom Range Rupert Riedls handelt, der in seinem Buch (Darwin, Zeus und Russeis Huhn, Wien 1994) im Gesprächsstil das Thema Verantwortung und die Grenzen des Wissenschaftsbetriebs abhandelt, oder um die Wegweisung eines Politikers wie AI Gore, Vizepräsident der USA, der sich mit der sorgenvollen Feststellung zu Wort meldet: „Die gegenwärtige Sinnkrise ist viel ernster zu nehmen als die wirtschaftliche und ökologische Krise.” („Wege zum Gleichgewicht”, Frankfurt am Main 1994)

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