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Heimito von Doderers Wien

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Dignität und Dekor" steckt in jedem Meter dieses Bauwerks. Die Bede ist von der Strudl-hofstiege, jener 1910 nach den Plänen von Johann Theodor Jaeger erbauten Treppenanlage im neunten Wiener Bezirk. Sie ist genius loci, Zentrum und Titel jenes Romans, der Heimito von Doderer 1951 zum literarischen Durchbruch verholfen hat.

Seither ist sein Name untrennbar mit dieser Treppenanlage verbunden. Und zu Becht. Denn er hat die Aura dieses Bauwerks erfaßt und dje Stiegen zum Programm seines Romans gemacht. „Hier wurde mehr als wortbar, nämlich schaubar deutlich, daß jeder Weg und jeder Pfad mehr ist als eine Verbindung zweier Punkte, deren einen man verläßt, um den anderen zu erreichen." („Die Strudlhof-stiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre")

Dies sollte man sich zur Maxime machen, wenn man zu „Fremd-Gänge" aufbricht, jenen Pfad, den Barbara Rett durch den Aisergrund nach Doderers Werken angelegt hat, um dessen Wien zu erkunden. Es ist das Wien eines Schriftstellers, das Wien seiner Figuren, das es in seiner Geschichte und mit/in Doderers Geschichten wahrzunehmen gilt.

Barbara Bett hat an die neuralgischen Punkte Stelen anbringen lassen, die Texte aus Doderers Werken,

biographische Details und Bezugspunkte zu den Romanen bergen.

„Dem Leser (und dem Fremdgänger) sei auch geraten, die Werke Doderers so zu begehen, wie er auch die Strudlhofstiege betreten sollte: mit dem Gefühl für den Rhythmus im einzelnen Satz wie auch in der Komposition des Ganzen, mit einem Verständnis, das über die Inhalte hinausführt und den Anleitungen folgt, die in dieser Schule des Sehens zu haben sind.", so Wendelin Schmidt-Dengler, Herausgeber und wohl auch einer der profundesten Kenner von Doderers Werken.

Die Strudlhofstiege, stille Heldin des ersten der beiden großen Wiener Romane Doderers, fungiert als Rampe zu den „Dämonen". Von der ehemaligen k.u.k. Konsularakademie, in der Boltzmanngasse, führt uns der Weg zum einstigen „Haus zum blauen Einhorn". Das Einhorn läßt sich nicht verdrängen oder gar abreißen, wie das Haus, an das nur noch das Stei -nerne Einhorn erinnert. Es symbolisiert das Vergangene, das noch immer - von einem Hauseck - in die Gegenwart ragt. „Mokkaduft und Zigaret-

tenrauch" laden ins Cafe Brioni ein, Treffpunkt in der „Strudlhofstiege".

Gleich vis a vis liegt der ehemalige „böhmische Bahnhof", der als Franz-Josefs-Bahnhof einerseits zum katastrophalen Umschlagplatz, andererseits zum Wendeplatz in Melzers Leben wird. Dort rettet er Mary K., seine einstig Verlobte, als sie in eine Straßenbahn rennt. Sie verliert ihr rechtes Bein, er bekommt seine andere Hälfte dazu, seine zukünftige Frau, Thea Ro-kitzer.

An den Franz-Josefs-Bahnhof anschließend führt der Weg zur Friedensbrücke. Der Donaukanal ist die Scheide zwischen dem „bürgerlichen" Aisergrund, dem Hauptschauplatz der „Strudlhofstiege" und der Brigittenau, dem Arbeiterbezirk und Wohnort Leonhard Kakabsas, dem es in den „Dämonen" gelingt, jene Dialektgrenze durch Selbstbemeisterung und Studium zu überschreiten. Auf der Uferpromenade hätte Mel-

zer in der „Strudlhofstiege" seine zukünftige Frau treffen sollen. Doch er versäumte sie.

In den „Dämonen" fungiert die Uferpromenade als Treffpunkt und inspiriert die Flaneure zu neuen Gedanken. Am 27. Mai 1952 notiert Doderer in seinem lagebuch: „Der Strom, der Passant, läßt uns die Stadt besser sehen."„Umwege erhöhen die Ortskenntnis", damit geht's weiter in den Hof der Tabakregie wo Melzer amtiert. Dort sind die Ritualgegenstände versammelt: Die Pfeile Rene Stangelers, der, wie sein Autor, sich als Bogenschütze übt. Die Tabakregie steht als pars pro toto für das Rauchen, denn Doderer, selbst passionierter Raucher, versorgte seine Figuren je nach Bedarf ausreichend mit Zigaretten, Tee und Cognac.

Naturgemäß darf bei einem Stadtspaziergang nach Doderer auch der Justizpalast nicht fehlen, dessen Brand am 15 Juli 1927 in den „Dämonen" zum Höhepunkt des Romans wird. Stärker noch als in seinen anderen Werken, das „Divertimento Nr. VII, Die Posaunen von Jericho" ausgenommen, arbeitet Doderer darin sein

problematisches Verhältnis zum Judentum auf, das auf seine gescheiterte Beziehung mit seiner Langzeitverlobten und ersten Frau Gusti Hasterlik zurückgeht. Er unternimmt den Versuch einer Warnung vor Totalitaris-mus und Ideologien. Zurück zur Strudlhofstiege, denn „sie (die Stiegen) ermüden nie uns zu sagen, daß jeder Weg seine eigene Würde hat und auf jeden Fall mehr ist als das Ziel.

Fremd-Gänge. Die Strudlhofstiege und Doderers Wien

Bezirksmuseum Aisergrund,

9, Währingerstr. 43

Ehemalige kuk Konsularakademie,

9, Boltzmanng. 16

Gasthaus „Küß'den Pfennig",

9, Marktg. 25

Ehemaliges „Haus zum blauen Einhorn ", 9, Liechtensteinstr. 74 Cafe Brioni, 9, Julius Tandler Platz 1 Franz Josefs-Bahnhof Friedensbrücke

Uferpromeiuide am Donaukanal

„Dow Stein-Haus",

9, Julius Tandler Platz 6

Osten-. Tabakregie, 9, Porzellang. 51

„Miserowsky'sche Zwillinge "

9, Porzellang. 39

Palais Liechtenstein, 9, Fürsteng. 1 Justizpalast, 1, Schmerlingplatz 10-11 Strudlhofstiege (bis 30. September)

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