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Heimkehr in die Fremde

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VOM SCHIFF KAMEN SIE IN DEN AUTOBUS AM KAI. Auf dem Schiff war noch Algerien gewesen, denn sie lebten in den vier Tagen der Überfahrt zwischen Oran und Haifa dicht gedrängt im Zwischendeck des alten Dampfers; Familie bei Familie, jede auf wenigen Quadratmetern. Auf dem Schiff waren auch die fremden Menschen noch nicht, die sie vom Kai in Haifa mit fremder Sicherheit über die Landebrücke zum Autobus führten. Schon auf der Landebrücke fühlten die Einwanderer die Fremde. .

Sechs Stunden fuhren sie dann im Autobus immer tiefer in die Fremde hinein. Nur die Hitze im Negev war ihnen noch vertraut. Nachdem sie die grenzenlosen Getreidefelder hinter sich gelassen hatten und um die schwarze Asphaltstraße die gelbe Savanne lag, sahen, sie dann die Siedlungen, auch einige Patrouillen auf Jeeps oder auf Kommandowagen. Die Siedlungen waren Baracken, aber sie konnten noch nicht erkennen, ob aus Holz oder aus Stein. Sie fühlten, daß sie angekommen waren und warteten, daß der Autobus plötzlich vom Asphalt abbiegen, über Stein und Sträucher rumpeln und auf dem heißen Boden einer Siedlung stehenbleiben würde. Wie auf dem Kai von Haifa würden fremde Menschen, vielleicht in Uniform, auf sie warten und ihnen helfen, die Bündel und die Kartons abzuladen.

Als es dann soweit war, sagten die Einwanderer einfach: nein. Es nützte nichts, und ihr Mißtrauen wurde nur tiefer, als die fremden Menschen ihnen zuredeten und sagten, diese Siedlung wäre eigens für sie erbaut, worden, ein halbes Haus für jede Familie und drinnen stünde ein Bett für jeden, auch für jedes Kind; ein Herd, Nahrungsmittel für drei Wochen und später würden Nahrungsmittel nachgeliefert bis sie selbst so weit wären, ihr Essen kaufen zu können oder zu produzieren. Saatgut läge bereit, in der Wirtschaftsbaracke, hinter der Siedlung.

HIER WAR DAS LAND WEIT UND ES GAB ARBEIT und ein Bett für jeden, was es in Algerien nicht gegeben hatte. Aber hier waren sie in der Fremde, die ihnen unversöhnlich erschien. Sie weigerten sich auszusteigen und blieben im Autobus, mit ihren Frauen und Kindern. Sie sagten, daß sie zurückgeführt werden wollten. Wohin zurück? Das wußten' sie selbst nicht, vielleicht nach Tel Aviv oder nach Jerusalem, in irgendeine Stadt, von der man in Algerien berichtet hatte, wo sie eng beisammen leben konnten, wie in den Casbahs in Algerien. Aber die Städte sind überfüllt, und es gibt' dort keine Arbeit und keinen Platz. Das machte ihnen nichts aus. auch in Algerien waren die Judenviertel überfüllt und es gab dort keine Arbeit. Sie hatten trotzdem dort gelebt, und sie ängstigten sich nun vor der Weite und vor vielem im neuen, im fremden Land. Einer der Männer in Uniform fragte den Patriarchen unter den Angekommenen, ob sie denn zurück wollten, nach Algerien Vielleicht; hier würden sie jedenfalls nie zu Hause sein.

Gegen Abend wurde es im Autobus untragbar heiß. Die Kinder begannen zu weinen und die trockene Luft war feucht von Schweiß.- Essen wurde herangebracht und in den Autobus gereicht, Wasser, das in großen Tankwägen herbeigeschafft worden war und Milch für die Kinder. Die Milch war von Bauern aus den Nachbarsiedlungen bereitgestellt worden, die vor Monaten oder vor Jahren die Ankunft erlebt hatten und die Verzweiflung kannten; aber auch das unabwendbare Ende: sie werden doch aussteigen, erschöpft und in der Fremde, und sie werden zu arbeiten beginnen. Was aber wird ihre Heimat sein. Algerien, von wo sie fliehen mußten, oder Negev, wo sie bleiben müssen?

120.000 JUDEN WARTEN IN ALGERIEN. Die Kais und die Piers der Hafenstädte sind Campingplätze geworden, nur ist es ein unfreiwilliges und elendes Camping auf Stein und Beton. Das Leben der Juden in Nordafrika war anders als das Leben der deutschen Juden vor 1933. Aber der Windhauch ist überall der gleiche, der durch die Gettos weht, knapp vor dem Pogrom.

Nordafrika war ein Abstieg für die Juden gewesen, die vor Jahrhunderten dort angekommen waren; Sephardim auf der Flucht vor der Inquisition und auf dem Weg abwärts von der Höhe ihres Lebens im maurischen Spanien in den Unrat der Casbahs. In den Casbahs der Städte Algeriens und Marokkos leben die Nachkommen der spaniolischen Juden auf einer Stufe mit den untersten Schichten der Moslim; mit ihnen vereint in Armut, Indolenz und Lebensform, von ihnen getrennt durch Glauben und Lebensinhalt. Nur im Süden, in den Oasen der Sahara ist es anders. Wer mutig genug war, sich bis dorthin durchzuschlagen, konnte sein Haus an der Karawanenstraße bauen. Die Judenviertel in den Oasen sind breiit ausgelegt und um die Häuser sind Gärten. „In den Oasen leben wir noch wie im maurischen Spanien“, sagte mir Jazaia, Oberhaupt der Juden in der Oase Gardaia. „Getrennt von den Moslim, aber im gleichen Rang“.

Sie lebten das Leben der Umwelt auf der tiefsten Stufe. Sie waren abgeschlossen von der Umwelt durch ihren Glauben und sie waren sehr orthodox. Sie standen unter dem Schutz Frankreichs. Das war eine Situation, schwierig zu tragen. Die Juden Algeriens waren nicht Avantgarde neuer Ideen und sozialer Umwälzung, denn sie waren primitiv und zu tief noch im Getto, das weit unterhalb der Linie lag, auf der Politik betrieben wird. Sie waren den Franzosen dankbar für den Schutz und sie fürchteten den Sieg der FLN.

Je näher dem ,,Sieg“, desto härter demonstrierten die algerischen Rebellen, auf dem Rücken der Juden, ihre Sympathien mit Nasser. In Algier wurde die Synagoge geplündert. In Oran wurden Juden aus ihren Häusern entführt, in unbekannte Richtung, aber mit endgültigem Ziel. In den letzten Jahren zogen die Juden aus den kleinen Städten nach Algier, Oran, Constantine, und das Leben in den Judenvierteln der Casbahs wurde erstickend dicht und unerträglich gedrückt. Nur im Süden, in den Oasen, blieb das Leben wie vor hundert Jahren. Der Sand und die Jahre sind eine gute Isolierung.

Nach dem Vertrag von Evian, herrschte um die Judenviertel plötzlich Stille. Die Juden lebten wie im Zentrum eines Wirbelsturms, aber sie wußten, daß der Sturm über ihren Köpfen zusammenschlagen würde. Als Ben Bella seine Rebellion begann, griff der Terror in die Judenviertel. *

„DIE KRIEGER DER FLN SIND HIER EINGEZOGEN. die vom .Schmutzigen Krieg' nur die Lager i(n Marokko und Tunesien sahen. Jetzt suchen sie sich an uns schadlos zu halten, für die Jahre die sie in den Lagern verloren, für den Krieg, den sie in den Lagern verpaßten.“ In den Judenviertel tobt ein stiller Pogrom. Am ersten Tag nach dem Einzug Ben Bellas wurden sechzig entführt. Da war die jüdische Gemeinde noch beisammen, und man konnte zählen, wie viele fehlten. Das geht jetzt nicht mehr. Im Judenviertel wohnt niemand mehr, die Türen sind offen und die Fenster zerschlagen. Doch aus den Häusern hört man Stimmen; Casbah-Mob, der beim Plündern streitet. Vor der Schule sah ich einen Araber, der seine Beute auf einen Karren lud. Ein Bettler stand in einiger Entfernung, dem der Plünderer vieles zuwarf, was für ihn zu schlecht war.

In den Docks, die noch unter französischem Schutz stehen, lagern Tausende und warten, um auf einem Schiff unterzukommen. Einige warten schon zwei Wochen lang. In wachsender Angst, die,Jjnzösi5chen Soldaten würden sich v 'ihnen einschiffen“. schrieb ein jüdischer Arzt, der noch vor einem Jahr davon überzeugt war, daß die Juden in Algerien bleiben würden, gleich, was geschehen sollte.

Der Brief kam aus Oran, wo Mbt und Unrat als dicke Decke über allen Straßen liegen, weil die Männer der Müllabfuhr FLN-Armbinden tragen und „im Dienst“ sind. Es stinkt im Unrat, auf den die Sonne brennt und es riecht nach Blut, das hier geronnen ist. Man erinnert sich daran: Oran war die Stadt, in der Camus die Pest wüten ließ.

WOHIN ENTFLIEHEN? Frankreich geht nicht sehr gut mit denen um, die als Flüchtlinge gekommen sind. Auch nicht, wenn sie einen französischen Paß haben. Die Juden in Frankreich strecken die Hände aus, gebend und abweisend, nur selten als Einladung. Sie sind bereit, großzügig zu geben, wenn die Juden aus Algerien mit den französischen Pässen Weiterreisen, nach Israel.

In Frankreich ist der Antisemitismus seit der Affäre Dreyfus kompromitiert. Aber die Juden in Frankreich fürchten, daß 120.000 verzweifelte, unruhige, primitive Flüchtlinge aus Algerien als Reisegepäck nichts bringen, als die Saat zum Antisemitismus. So geht der Treck von Algerien über Frankreich nach Israel.

Sicher, sie haben oft davon gehört, daß es den jüdischen Staat gäbe und die Jungen wollten hin'. Aber IsraeP ist ein junger Staat und ein neues Land, und für die Juden in Algerien, die nicht mehr jung sind, ist alles Neue fremd und unrein. Sie fragen sich: „Sii'.nd das noch Juden dort, die nicht eng zusammengedrängt in Casbahs leben und die einen Staat aufbauen? Sind diese Menschen von unserer Religion?“ Mit dieser Frage, glücklich, Algerien zu entkommen, aber angstvoll vor Israel, leben sie auf dem Schiff. Wenn sie die Männer auf dem Kai von Haifa sehen, die sie zum Autobus führen, selbstsicher und bestimmt, wie es einem Juden in der Casbah nicht zukam, wenn sie in den Negev einfahren, der grenzenlos erscheint, glauben sie die Antwort auf die Frage zu wissen. Und fordern, zurückgeführt zu werden. Wohin?

. WELLE NACH WELLE VON EINWANDERERN; manchmal sieht es aus, als ob die Einwanderer das Land unter sich begraben, den Boden, der bewohnt werden kann und der fruchtbar ist, Übervölkern. Aber dann ist immer noch Boden da, der trocken und seit Jahrhunderten unfruchtbar ist und der bewässert wird und fruchtbar gemacht werden muß. Es darf kein Zuviel an Einwanderern geben. solange noch Juden in der Diaspora in Angst leben. Alles, was bisher kam, ist leicht gewesen gegenüber dem, das noch kommen soll. Wenn die Sowjetunion ihren Juden die Auswanderungen nach Israel erlaubt, wird eine Einwanderungswelle von Millionen Menschen nach Israel ziehen. Israel bereitet sich darauf vor.

Mit jeder Einwanderungswelle stöhnte Israel, .als ob es sie nicht „Verdauen“ könnte. Aber Israel hat noch jede Einwanderung „verdaut“, und zwar gut. Bei jedem großen Transport ins Land tauchen neue Krisen auf. Die Menschen kommen aus Ländern, aus denen niemals vorher Massen von Juden nach Israel ausgewandert waren. Alles ist anders, wo sie waren, und sie selbst sind ganz anders im Land, in das sie gekommen sind. Eigenartig, daß mit den großen Wellen zuerst nur die Laster der alten Heimat in die neue zu kommen scheinen. Es braucht einige Zeit, und oft Jahre, bis man in Israel merkt, sie haben aus den Ländern, in denen sie früher lebten, auch Kräfte mitgebracht. Als die Einwanderungswellen aus den arabischen Ländern kamen, wuchsen im ganzen Land wie häßliche Gewächse die „Bidonvilles“ und die „Shantytowns“. und die dunklen Straßen von Tel Aviv gab es und, was es in Israel nie gegeben hatte, Prostitution. Es brauchte Jahre, bis die Menschen aus den arabischen Städten bewogen werden konnten, ihre Brettldörfer zu verlassen und in die Häuser einzuziehen. Es brauchte nur Monate, bis die Prostitution aus den Straßen von Tel Aviv wieder verschwand. Mit der nächsten Welle von Einwanderern wuchsen wieder Brettldörfer, und dunkelhäutige Mädchen standen abends in den Straßen.

DIE MENSCHEN AUS ALGERIEN SIND ZULETZT DOCH aus dem Autobus gestiegen. Sie ließen sich langsam zu ihren Baracken führen, Familie nach Familie, und sie begannen die Baracken zu bewohnen. Am zweiten Tag ließ die Spannung nach, und von den Uniformierten und Begleitern blieben nur wenige in der Siedlung zurück. Jetzt werden sie nicht mehr fliehen. Zumindest nicht alle und nicht glejch. Man hörte, wi? ein Mann seine Frau schlug, und ein Polizist, der vor Jahren aus Nordafrika gekommen war, sagte: „Jetzt beginnen sie sich zu Hause zu fühlen.“ Später gingen einige zur Arbeit, und die Jungen begannen ihr eigenes Leben zu führen. Jetzt erinnerten sie sich auch wieder daran, wie die letzten Wochen und Monate in Algerien gewesen waren.

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