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Heimkehr nach Europa

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An die 200.000 magyarische Flüchtlinge haben seit den tragischen Novembertagen des vorigen Jahres ihr gequältes Vaterland verlassen und sind nach Westen, nach den Grenzen des benachbarten friedlichen und rettenden Oesterreich geströmt... Eine ungeheure, in der neueren Geschichte Europas bisher unbekannte Erscheinung — sie ist nicht nur ein spezielles österreichisches und ungarisches Problem, sondern tangiert auch das Gewissen der europäischen Menschheit. Das von Westeuropa lange so vernachlässigte, mit einer gewissen ironischen Geringschätzung behandelte südosteuropäische Thema ist damit wieder auf die Bühne einer erregten Zeitgeschichte getreten, und es hat die seit 1914 bis 1918 geschmähte historische Wahrheit sich wieder als richtig erwiesen: daß ohne eine Lösung der brennenden Fragen des Donau- und Karpatenraumes die friedliche Ordnung des neuen Europa nur eine eitle und trughafte Hoffnung sei...

Und diese qualvolle und tränenumströmte Invasion, diese moderne Völkerwanderung ist auch eine flammende Antwort auf die alten geschichtlichen und politischen Lügen, Plattheiten lind Halbwahrheiten, die seit 1914 bis 1918 über Oesterreich und Ungarn in Westeuropa verbreitet wurden. Die Friedensdiktate von J 918/19 haben die Ordnung von Mitteleuropa Zerstört. Die aufeinander angewiesenen kleinen Völker und Staaten konnten nichts mit ihrer neuen, nach den schimmernden Mustern des Westens gebildeten ohnmächtigen Freiheit anfangen, einfach weil die westeuropäische Staatsund Nationalidee ganz anders geartet war, als die Osteuropas. Die alten Zusammenhänge wurden zerrissen, und kein südosteuropäisches Volk war fähig, eine neue universale Ordnung der Dinge zwischen dem Westen und dem mit bolschewistischen und neo-byzantinischen Energien geladenen Osten zu errichten. Da ist die zweifelhafte Lage der Tschechoslowakei, des nach westeuropäischen bürgerlichen und rationalen Beispielen aufgebauten republikanischen Musterstaates. Da ist das Beispiel des von Europa weggerissenen, verlassenen und auf sich selbst angewiesenen Ungarn ...

Im Angesicht der ungarischen Flüchtlingsfrage, die auch eine Frage Oesterreichs und des Westens ist, müssen wir offen und aufrichtig von den geschichtlichen Fehlern sprechen, die die Entwicklung Ungarns von 1849 bis 1918, dann von 1919 bis heute beherrscht und beeinflußt haben. Denn wo hat diese verzweifelte, fürchterliche Auswanderung eine sichere Rettung gesucht? Wo winkte den geflüchteten Arbeitern, Bauern, Studenten und Intelligenzlern die Hoffnung auf menschliche Freiheit, die Verheißung der verleugneten Menschenrechte? In Oesterreich, in einem alt-neuen Oesterreich, das in der früheren und neueren magyarischnationalen Geschichtsschreibung. Publizistik, Schulerziehung, im allgemeinen Bewußtsein als Ueberbleibsel einer rechtswidrigen Habsburg- Tyrannei, eines antimagyarischen Despotismus hingestellt worden war ... Aber das österreichische Volk und Oesterreich als Staatswesen haben mit beispielloser Güte, mit einem opferfreudigen Mitgefühl die Irrenden, Weitgejagten aufgenommen.

Es beginnt ein neues Kapitel der österreichisch-ungarischen Beziehungen.

Das kleine Magyarenvolk hat eine glor reiche, von Tragödien und Kämpfen durchwühlte schmerzhafte Geschichte, und dieses Inselvolk, diese Inselliteratur hat herrliche Persönlichkeiten hervorgebracht: wir müssen uns aber auch über die bittere Wahrheit im klaren sein, daß diese Auswahl der Qualität mit der Haltung der Masse nichts gemein hatte, eine individuelle Auslese war, die immerdar durch eine Berührung mit Europa befruchtet wurde. Die besten Magyaren, die Erwecker, die tragischen und einsamen Männer, waren immer in Opposition Ungarn und Europa“ — ,,Ungarn oder Europa": das waren die größten und heikelsten Fragen dieser am Rande des Westens ringenden Nation. Ja. hinter den Grenzen Altungarns breitet sich der halbdüstere und unberechenbare Osten aus .. . Das Magyarenvolk ist selbst von Osten gekommen, abei durch tausendjährige Kraftleistung seiner Besten hat es sich eine, manchmal angesehene europäische Würde erworben. Ungarn war einst ein vornehmes Mitglied der christlich-europäischen Kulturgemeinschaft: Ungarn war stolz, ,,dei Schild der Christenheit“ gegen die Osmanen z sein. In Ungarn wurden die letzten romanischen und gotischen Dome, Städte, Barockpaläste Südosteuropas erbaut...

Ungarn hat auch eine heikle innere amphibische Lage. Der Donau- und Karpatenraum ist geographisch dem Westen zugeneigt, ein letztes Bollwerk des christlichen Mitteleuropa. Doch in der Mitte des nach Osten durch burgartige Gebirge versperrten Landes erstreckt sich die eintönige Tiefebene, das „Alföld“, eine riesige Fortsetzung, ein Vorfeld der eurasischen Steppen, aus denen die Magyaren nach Europa gekommen sind — eine monumentale geographische und ideelle Verlockung für den nach Westen übergreifenden Osten —, und auch eine symbolische Gelegenheit zu Verführungen und Verirrungen für das magyarische Nationalgefühl.. . Eine östliche Romantik weht und wehte immer im magyarischen Nationalempfinden, eine innere Spaltung hat die magyarische Seele faktisch und ideell zerrissen: ein Gefühl der östlichen Einsamkeit in Europa, allein zu sein unter den lateinischen, germanischen, westslawischen Völkern . .. Dieses Einsamkeitsgefühl hat seinen barschtönenden Kontrapunkt gehabt: trotzige Haltung gegen den Nachbarn, eine politische Megalomanie der Herrschenden, eine unpolitische, straffe Machtausübung gegen die bitteren Gegebenheiten, eine Nichtanerkennung des eigenen realen Wesens und Schicksals. In verschiedenen Situationen wollten die verschiedenen Führer nicht anerkennen, daß ihre Nation ein in einer peinlichen Weltstellung einsam stehendes, manchmal sich mit kläglichen Lösungen dahinfristendes kleines Volk sei, eines der kleinsten in Europa.

1918/19, dann wieder 1940 bis 1945 sind die düstersten Täuschungen gekommen. Die alte Herrenschicht, die Ungarn doch aufrechterhalten hatte, sollte von der Bühne eines heroisierenden Geschichtemachens abtreten. Die neue herrschende Schicht des Horthy-Gömbös-Regimes war mit zweifelhaften, strebsamen kleinbürgerlichen Elementen durchsetzt, und die Sprößlinge assimilierter tschechischer Feldwebel oder ihre Deutschheit scheu und opportunistisch verleugnender schwäbischer Bauern- und Kleinbürgersöhne fühlten sich als rechtmäßige Nachfolger der abgetretenen Feudalen und träumten weiter den trügerischen östlichen Rassentraum eines nebelhaften „Turanismus“, den Traum eines über allen Donauvölkern regierenden mächtigen magyarischen Reiches. Die alten staatsrechtlichen Forderungen, die des Feudaladils, gegen den österreichischen Gesamtstaat gewendeten Ansprüche, hatten den Inhalt eines modernen Nationalgefühls gebildet, tragischerweise unter ganz veränderten Zeitbedingungen. Die Furcht vor Oesterreich und vor dem Westen, ein herrliches Einsamkeitsempfinden, der Argwohn gegen alles, was vom Westen kommt, dies waren die Attribute der immer unzufriedenen und tragisch gefärbten magyarischen Nationalidee.

Wie günstiger hätte sich Ungarns Schicksal gestaltet, wenn die Politiker der „Unabhängigkeitspartei“ der Jahre 1900 bis 1910 die Demokratisierung Ungarns übernommen, den Umbau des hinkenden, zusammenstürzenden Dualismus durchgeführt, eine reale Lösung der Nationalitätenfrage eingesehen, an der Neuordnung der alten Monarchie mitgewirkt hätten... Ja, eine universale Lösung der Donaufragen wäre die einzige Rettung des magyarischen Staates und Volkes gewesen. Von der Vulgarisierung der lS48/49er Idee aber führt ein direkter Weg zur gegenwärtigen Katastrophe .. .

Und jetzt flüchten die Magyaren nach Oesterreich ... Die Paläste altösterreichischer Staatsmänner, Kaiser sind ihnen zu Symbolen der menschlichen Freiheit und Gleichberechtigung geworden. Manche neigen ihren armen Kopf mit später, heimlicher Reue und Gewissensbissen vor den Särgen in der Kapuzinergruft. Manche stehen im stillen Nachdenken im Garten des Belvedere: ihr trauerndes Herz ist erfüllt vom Schmerz über versäumte Gelegenheiten, als Ungarn die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer gemeinsamen mitteleuropäischen Ordnung und Gleichberechtigung der hier lebenden Nationen nicht anerkennen wollte.

Als Flüchtlinge aber sind ie nun durchs Tor getreten, sehend geworden und — nach Europa heimgekehrt.

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