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Heinrich Federer zum Gedenken

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Wie einen freundschaftlich dargebotenen Arm streckt Österreich die Länder Tirol und Vorarlberg nach Westen und erreicht dadurch — auf einer Breite von rund 120 Kilometer — die unmittelbare Nachbarschaft mit der Schweiz. In gefestigten Zeiten kennzeichnet man in Europa Staatsgrenzen nicht durch Mauern, Linien und Wälle. Vielfältige Brücken führen hinüber und herüber: völkerverbindend wirken Handel und Verkehr. Die Güter des Geistes und der Kultur nähern benachbarte Nationen zu brüderlicher Eintracht. Kommt dazu die Verbindung einer gemeinverständlichen Sprache, so werden kulturelle Güter nicht als Zeugnisse eines fremden Volkes betrachtet undr fwertet, sondern wie ein Stück aus der eigenen Welt. Ein Beispiel dafür: Werke der Schweizer Dichter sind in Österreich allgemeines Bildungsgut.

Die Verse von C. F. Meyer haben bei uns die gleiche Gültigkeit wie di von R. M. Rilke. Die Epik Gottfried Kellers steht neben der von Peter Rosegger. Dramen, die von Schweizer Bühnen erfolgreich aufgeführt werden, finden in Österreich eine Heimstätte. Die geistigen Ausstrahlungen Österreichs auf die Schweiz gehen um Jahrhunderte zurück, beginnen, seit Schweizer Jugend auf der Wiener Universität studierte und Joachim von Watt aus St. Gallen durch den Kaiser Maximilian I. in Linz zum Dichter gekrönt wurde. Im Bann dieser starken Wechselwirkung ist es verständlich, daß die Festtage des Geistes bei uns in gleicher Gültigkeit stehn wie in der Schweiz. Wenn wir heute unser Gedenken dem Dichter Heinrich Federer zuwenden, so kann dies in keiner geringeren Herzlichkeit geschehen wie in seinem Heimatland.

Es sind achtzig Jahre her, daß am 7. Oktober 1866 Heinrich Federer in Brienz, im Kanton Bern, geboren wurde. Der Ort liegt inmitten des Alpenzuges und zählt heute rund dreitausend Einwohner. Seine Lage an einem großen See, der Anblick des Brienzer Grats und des 2224 Meter hohen Tannhorns lassen ihn zu einem landschaftlich gesegneten Stück Erde werden. Brienz wuchs sich zu einem beliebten Ausflugsort aus, obgleich das internationale Interlaken mit einem milden Klima und dem Reiz allen Komforts in großer Nähe liegt. Durch den Geburtsort gehört Heinrich Federer dem deutschsprachigen Kulturkreis an, der den breiten nördlichen Raum des Schweizerlandes einnimmt. Von den drei andern Kulturkreisen, dem italienischen, dem französischen und dem rätischen, ist er, geographisch gesehen, in fast gleicher Entfernung aufgewachsen.

Heinrich Federers Vater war ein Genie des unfertigen Werks. Seine Holzplastiken — Brienz ist der Sitz einer traditionsreichen Holzschnitzerkunst — wurden genial entworfen, mit Feuereifer begonnen und — von einem rasch ermüdetenSchöpferwillenunfertig zur Seite gelegt. Es ist nicht verwunderlich, daß ein solcher Mann, der sein Werk nicht meistern kann, sich selbst verlor. Der Mutter blieb jetzt die Last des Familienerhalts, die Sorge um die Erziehung der Kinder. Unter dem Einsatz aller körperlichen und geistigen Kräfte wurde diese Pflicht erfüllt. In dem Buch seiner Lebenserinnerungen: „Am Fenster“ spricht Heinrich Federer in bewundernder Dankbarkeit von dieser Frau: „Die Mutter wußte keine Geschichten zu erzählen wie der Vater. Sie verstand nicht mit uns zu spielen. Sie verstand nur mit uns zu beten, zu arbeiten und zu schweigen.“ Bald erkennen die Kinder: „Die Mutter könne viel mehr als der Vater, sie könne die Religion und die Wissenschaft nicht wie der Vater in halbfertige Steinstatuen, wohl aber ins Fleisch und Blut bildhauern. Und da gab es nichts Unfertiges.“

Für den Vater findet sich in den Lebenserinnerungen kein aburteilendes Wort, wenngleich Heinrich Federer dessen Unrecht und Fehler einsieht und offen zugibt. Zu sehr fühlt er sich mit ihm blutmäßig verwandt, seinem Wesen verwachsen. Gegen den Hang, an Halbfertigem Genüge zu finden, hat auch der Dichter oft ankämpfen müssen. In Verbindung der schulmäßigen und der eigenen Erziehung jedoch reift er als Mensch zur Vollendung und später zum Dichter. „Und di gab es nichts Unfertiges.“ Heinrich Federer nimmt die Weihe des Priesters. Damit ist ein Lebensweg vorgezeichnet und wird mit allem Ernst durchschritten. In aller Stille reift eine andere Frucht: die Gabe des Dichters.

Jahre in breiter Folge bezeichnen die innere Entwicklung dazu. Eine wichtige Etappe ist Samen, die Hauptstadt des Halbkantons Unterwaiden. Hier ist die Natur nicht so reich wie in der Heimat, aber der Industriefleiß und das Handwerk findet sich in allen Häusern. Das vermittelt erneute Erkenntnis über den Sinn der Arbeitsvollendung. Und das ist gut, denn immer gärt das Blut des unglücklichen Vaters. Hier wird auch das Verhältnis zur Natur geklärt und gefestigt. Wohl gefestigt, aber nicht begrenzt, denn als später Italien lockt, erschließen sich Heinrich Federers Herz und Geist freimütig dem südlichen Raum. In Samen ist ferner die Begegnung mit der barocken Formsprache, die trotz langer Epochenwende hier fröhlich weitergedeiht und auch das religiöse Element seiner Dichtungen hat hier die ersten Wurzeln kräftig genährt durch die Ausstrahlungen der Abtei St. Gallen. Dann wird es ein anderer Bereich: Toggenburg. Wie alle Lande in der Schweiz blüht auch hier geistige Tradition in eigener Prägung. Zum Amt des Seelsorgers kommt in Toggenburg die erste Berührung mit der großen Welt. Nach Jahren schreibt der Dichter darüber: „Aus mancherlei Gründen mußte ich mich zwanzig Jahre lang viel in erstklassigen Kurorten, in großen Hotels und unter den sogenannten Reichen umtun. Waren sie wirklich reich?“

Merkwürdig stark, auch für einen Schweizer, wirkte sich die Fühlungnahme mit dem mediterranen Kulturkreis, mit Italien, aus. Romanischer Geist war auch im breiten nördlichen, in dem deutschsprachigen Teil der Schweiz mächtig geworden. Auf vielfältigen Wegen war er eingedrungen und hatte als Preis für die helle Aufnahmebereitschaft die Sublimierung zu jenem differenzierten Formgefühl gebracht, wie es nur auf romanischem Boden entstehen konnte. Zur letzten Station des Lebens wurde dann Zürich. Hieher war einst aus der Bergwelt des Toggenburg Zwingli gekommen. Auch Heinrich Federer hat sie kennengelernt und in sich aufgenommen. Aber was er an Gütern des Geistes aus dem Raum der regsamen, klugen und bedeutenden Stadt an die Welt gibt, ist von anderem Gehalt als jene Gabe des religiösen Revolutionärs. Er versucht nicht, wie jener, den Traum einer „civitas Dei“ im Gefüge des Staates zu verwirklichen. Er baut den Gottesstaat im Geistigen, in seinen literarischen Werken. In Büchern der Demut und der christlichen Liebe, der Stille und der Freude. Und er zeichnet die Welt, so wie sie ist. Und er wirbt, daß sie werde, wie sie sein sollte: eine civitas Dei im Herzen der Menschen.

Jahrzehntelang währte die rezeptive Haltung Heinrich Federers. Es war, als sammle er erst einmal alle Ingredienzien, ehe er den Wein in den Schläuchen gären ließ. Oder kommt es Schweizer Eigenart entgegen, sich mit Schularbeiten lieber in der Stille zu mühen? Denn auch Gottfried Keller und C. F. Meyer traten spät an die Öffentlichkeit. Im Jahre 1911 gab fteinrich Federer die „Lachweiler Geschichten“ und den. Roman „Berge und Menschen“ heraus. Er schwamm damit in jenem breiten Strom schweizerischer Epik,- der etwa 1905 zu fließen begann und bis 1912 andauerte. Unter den guten Namen eines Spitteier, Albert Steffen, Jakob Schaffner, Felix Moeschlin, Maria Waser und anderen gleich die Spitze zu gewinnen, war nicht möglich. Besonders, weil beide Erstlinge noch nicht die Vollendung der späteren Werke zeigen. Aber schon tat sich kund, daß Heinrich Federer wie kein zweiter die verfeinerte Bildersprache Kellers volkstümlich gestalten konnte.

Da die dichterische Quelle einmal zu fließen begann, mochte sie nicht mehr versanden. Bis 1916 vergeht kein Jahr, ohne daß nicht ein neues Buch erscheint. Da ist der Roman „Pilatus“, die Erzählung „Jungfer Therese“. Es folgten — reifste Vollendung — die Geschichten aus der italienischen Umwelt mit dem Kleinod Schweizer Erzählerkunst: „Das letzte Stündlein des Papstes.“ Das ist Schweizer Stil, wie er sich in den historischen Geschichten Federers später mehrfach zeigt. Unverfälscht und ohne fremdes Vorbild, seit Johannes Müller Schweizer Geschichte schrieb. Mit dem Roman „Das Mätteliseppi“ (1916) tritt eine Pause ein. Noch einmal folgt ein neuer Roman, „Papst und Kaiser“, und — im Todesjahr des Dichters — das Lebensbuch „Am Fenster“ (1928).

Breit ist der Schauplatz der Handlung im Werk Heinrich Federers, schwingt zwischen der Schweiz und Italien. Der heimatlichen Landschaft bleibt er treu, auch wenn er in Zürich lebt. Ober- und Unterwaiden werden von ihm literarisch entdeckt. Die Male jahrzehntelanger stiller und bewußter Rezeption können nicht wie ein Hotelprospekt gewechselt werden. Bunt ist die Reihe der Menschen, die uns in den Erzählungen begegnen. Sie leben am Thron des Papstes ebenso wie in der Küche eines Dorfpfarrers. Es sind Arme und Reiche; Reiche, von denen man sich fragt: „ob sie wirklich reich waren“. Statt der nervösen Konstitution des Zeitmenschen stellt der Dichter den gefestigten Charakter dar, der in der katholischen Religion gegründet ist. Da er die Menschen liebt, zeigt er uns liebenswerte Menschen, nicht ohne Fehler, aber auch nicht ohne den

Weg zum Verzeihen. Die oft stillen und einfachen Fabeln sind geschrieben in einem meisterhaften Stil, der romanischen Gabe an die deutschsprachige Schweiz. Statt aller Interpretation ein Beispiel über den Tod Innozenz' III.: „Jä war es über den blühenden Herrn gekommen und hatte ihn aus großen Plänen und einem Tisch voll noch nasser weltregierender Diktate ins Sterben gerufen. Eine Orange zur Unzeit, Fieber, verwirrter Medikus und der Tod, das ging in einem halben Tag.“

Die Schweizer Erzähler nach Gottfried Keller und C. F. Meyer standen oft im Schatten dieser beiden Großen. Federer besonders wurde von der Wirkung des religiösen Ringens in C. F. Meyers Werk überschattet. Nicht durch dessen einmaligen Stil. Auch Heinrich Federer ist ein Meistet des Wortes in eigener Art. Die norddeutsdie Literaturgeschichte, protestantisch eingestellt, hob jenen Dichter, der im protestantischen Zürich geboren war, auf den Schild. Heinrich Federer ist der Künder der katholischen Schweiz. Österreich, das Land mit alter katholischer Tradition, kan i Helfer sein, dem Werk des Dichters volle Geltung zu verschaffen. Es bleibt die Hoffnung, daß durch die Auswirkung des österreichisch-schweizerischen Bücherclearings Bücher von Heinrich Federer in größerem Umfang zu uns kommen werden, um so mehr, da seine Werke im Rex-Verlag, %izern, eine Auferstehung erleben.

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