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Ein Romanautor, Lyriker, Essayist und Literaturprofessor begibt sich auf die Verwüstungsspuren Amors. "Der irdische Amor" von Hans-Ulrich Treichel.

Im Zustand ansteigender innerer Erregung sitzt Albert vor Caravaggios "Irdischem Amor", vor jenem knabenhaften Amor, der den Betrachter mit höhnisch-herablassendem Lachen spüren läßt, dass auch er sich seiner allumfassenden Macht wird beugen müssen. "Amor Vincit Omnia", so lautet der übliche Titel des Bildes, "Amor besiegt alles": Wissenschaften und Künste, die geistigen Errungenschaften der Menschheit, liegen wie weggeworfen zu seinen Füßen, ein Himmelsglobus findet sich gar unter das göttliche Hinterteil gezwängt. All dies beachtet Albert, Student der Kunstgeschichte und bereits selbst Beute des irdischen, allzu irdischen Amor, nicht. Vielmehr gilt seine ganze Aufmerksamkeit einem Detail, einem sich zwischen den Beinen Amors befindlichen Faltenwurf des Tuches, den er sogleich mit erotischen Konnotationen versieht und aus dem er eine These entwickelt, in deren Zentrum die Entdeckung einer Achse, die er etwas forsch "Anus-Vulva-Achse" nennt, steht. Der erwartete Erfolg dieser im Referat präsentierten Beobachtung stellt sich nicht ein, statt dessen weist der Professor darauf hin, dass diese "Faltenwurfthese" einen Gemeinplatz der wissenschaftlichen Literatur darstelle, die Albert offenkundig nicht konsultiert habe, dass ferner das Studium der Kunstgeschichte nicht mit einem Gynäkologie-Unterricht zu verwechseln sei und dass er seine Studienwahl noch einmal überdenken solle.

In seinem neuen Roman stellt der 1952 geborene, vielseitig begabte Lyriker, Librettist, Essayist, Romancier und Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig Hans-Ulrich Treichel seinen Protagonisten auf die weite Bühne des Gefühls-Theaters und weist ihm eine tragikomische Rolle zu. In einem geradezu dialektischen Wechselspiel aus Erwartung und Enttäuschung erschließt sich Albert die Welt, die ihm, dem ambitionierten Studenten und von "Eros und Verzauberung" träumenden jungen Menschen, offen stehen müßte und die sich ihm doch stets aufs Neue in abweisender Kälte präsentiert. Wie in den vorangegangen Prosatexten, der autobiographisch gefärbten Erzählung "Der Verlorene" (1998) und dem Künstlerroman "Tristanakkord" (2000), stattet Treichel seinen Helden erneut mit einem tiefsitzenden Herkunftskomplex aus. Albert, der Sohn von Ostflüchtlingen, die sich mit einer kleinen Fleischerei in Norddeutschland eine neue Existenz aufgebaut haben, wird in einem kunstvoll eingeflochtenen Rückblick als "schwieriger und renitenter Schüler" gezeichnet, dessen erste Lektüre-Begegnungen mit Marcuse, Kropotkin und Wilhelm Reich sich eine Spur abseits des klassischen Bildungskanons bewegen. Die ersten sexuellen Erfahrungen macht er mit Katharina, dem Sprößling einer wohlhabenden Möbelfabrikantendynastie. Die gefährliche Liebschaft wird aufgedeckt und Albert des Internats verwiesen. In einer hinreißend komisch erzählten Episode sucht er daraufhin die Eltern Katharinas in deren Würzburger Villa auf, um sie vom verhängten Kontaktverbot abzubringen. Der Versuch scheitert, die Vertreter der Großbourgoisie begegnen dem in ein simpliccistisches Narrenfell, nämlich einen schwarzen Pelzmantel gehüllten, rauchenden Anarchisten zwar höflich im Umgangston, doch unnachgiebig in der Sache.

Alberts Dämmerzustand permanenter Erwartung findet sein Ende, als eine südländische Schönheit mit dem fatalen Namen Elena in sein Leben tritt. Diese arbeitet als Kellnerin in einem hauptsächlich von Italienern besuchten, zwielichtigen Lokal in Berlin und gibt Alberts Werben rasch, wenngleich ohne ersichtliche Begeisterung, nach. Elenas distanzierte und gleichgültig wirkende Art gibt dem verzückten Albert ebenso wenig zu denken wie die Bestückung ihres Bücherregals, die sich in "Stiletto" von Harold Robbins und einem zweibändigen Kosmetiklexikon erschöpft. Ihrer Bitte, er möge sie in ihre Heimat Sardinien begleiten, wo sie einen Kosmetiksalon zu eröffnen beabsichtige, kommt Albert, der den Gedanken genießt, "kein frauensüchtiger, sondern ein liebender Mensch zu sein", gerne nach. Schließlich bereitet er gerade seine Abschlußarbeit über Caravaggio vor, wenngleich er sich statt des "Irdischen Amors" nun des "Ungläubigen Thomas" angenommen hat, und betrachtet Italien als ideales Arbeitsumfeld.

In Sardinien beschleicht ihn jedoch bald das Gefühl der Fremdheit. Während Elena in der heimatlichen Umgebung aufblüht und plötzlich ein offenes und herzliches Wesen an den Tag legt, isoliert sich Albert zunehmend von seiner Umgebung. Carbonia entpuppt sich keineswegs als "mittelalterliches Städtchen nach Toskanaart", vielmehr als eine moderne Bergarbeiterstadt, in der es mit dem Bergbau vorbei ist. Die Familie nimmt Alberts kühne Behauptung, in Kürze eine Assistentenstelle an der Universität anzutreten, mit sardischer Gleichgültigkeit zur Kenntnis und spricht von Caravaggiu, wenn von Caravaggio die Rede ist. Und so ist es nur konsequent, dass Albert dem Lockruf der norddeutschen Heimat nachgibt, der in Gestalt der Geologiestudentin Klara aus Halle in Westfalen erfolgt und von der er nach seiner Ankunft in Berlin einen Brief vorzufinden hofft.

Treichels in den siebziger Jahren angesiedelte éducation sentimentale erweist sich als Entwicklungsroman, in dem der Held kein Stück vorwärts kommt und am Ende dennoch nicht derselbe ist, der er am Anfang war. Mit mildem Humor und großer, in ihrer Leichtigkeit und Musikalität unnachahmlicher Erzählkunst führt er seinen Helden durch die oft peinlichen und peinigenden Stationen des erwachenden Geschlechtstriebs. Kunst und Leben bedingen einander wie Bild und Rahmen: Das Leben bildet in Treichels Roman den Rahmen, fließt in das Kunstwerk und die Betrachtung des Kunstwerks ein. Zwar legt der Autor in einem offenen Schluß die Befürchtung nahe, dass so bald kein gnädiger Amor Lethus die Fackel der Begierde im Fluss des Vergessens löschen wird. Doch darf man annehmen, dass Albert zu einem exzellenten Kenner von Caravaggios "Irdischem Amor" heranreifen wird.

Der irdische Amor. Roman von Hans-Ulrich Treichel, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2002. 256 Seiten, geb., e 20,50

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