6682636-1961_51_19.jpg
Digital In Arbeit

Heldenkanzler oder Arbeitermörder?

19451960198020002020

ENGELBERT DOLLFUSS. Von Gordon Shepherd. Ins Deutsche übertragen von Adolf Heine-Geldern. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln, 1961. 350 Seiten, 48 Bilder. Preis 135 S.

19451960198020002020

ENGELBERT DOLLFUSS. Von Gordon Shepherd. Ins Deutsche übertragen von Adolf Heine-Geldern. Verlag Styria, Graz-Wien-Köln, 1961. 350 Seiten, 48 Bilder. Preis 135 S.

Werbung
Werbung
Werbung

Zwischen „Heldenkanzler“ und „Ar- beitermörder“ schwankt das Bild Engelbert Dollfuß’ in der Geschichte. Über vieles sind sich die Männer der Rechten und der Linken in Österreich innerhalb der letzten Jahrzehnte einig geworden. Über noch mehr diskutieren sie heute gelassen und leidenschaftslos. Sobald aber der Name Dollfuß fällt, wachsen sogleich unsichtbare Barrikaden aus dem Boden, vernarbte Wunden brechen auf und vergessene Leidenschaften gewinnen neues Leben. Das muß auch einem ausländischen Beobachter auffallen und zu denken geben. Dem langjährigen Korrespondenten des Wiener „Daily Telegraph“, der zu seinem Freundeskreis Politiker, Wissenschaftler und Publizisten aus verschiedenen Lagern der österreichischen Innenpolitik zählte, blieb dies ebenfalls nicht verborgen. Gordon Shepherd, der mehr als einmal Ohrenzeuge bewegter Auseinandersetzungen über die jüngste österreichische Vergangenheit war, ging jedoch einen Schritt weiter. Einen entscheidenden Schritt. Schon seine beiden ersten, mitteleuropäischen Problemen gewidmeten Bücher, „Rußlands Donaureich“ und „Die österreichische Odyssee", ließen in ihm die Ahnung reifen, daß die Person Engelbert Dollfuß’ und die kurze Zeit seines Wirkens auf der politischen Bühne eine entscheidende Zäsur in die jüngste Geschichte Österreichs darstellte, daß der kleine Kanzler, den die Photos der dreißiger Jahre gerne in der alten Uniform mit dem Schildhahnstoß an der Kappe zeigen, eine Generation von Österreichern — gleichgültig ob zunächst als Mitkämpfer oder Gegenstreiter — staatspolitisch aufgerüttelt und in Marsch gesetzt hatte: jene Generation, die schließlich 1945 und in den Jahren darnach die Wiederbegründung der Republik, die jetzt kein Staat wider Willen mehr war, zu ihrer Lebens aufgabe machte. Und mit dieser Erkenntnis reifte der Plan, sich mit dem Mann Engelbert Dollfuß und seiner Zeit näher auseinanderzusetzen.

Gordon Shepherd hat sich seine Aufgabe nicht einfach gemacht. Außer dem Studium der eher spärlich vorhandenen, dürftigen und einseitigen Darstellungen in Büchern, Broschüren und Artikeln aus bewegten vergangenen Tagen nützte der Verfasser das letzte Jahr seines Aufenthalts in Österreich dazu, möglichst viele noch lebende Quellen zu befragen. Und hier hat er ganze Arbeit geleistet. Von Dollfuß’ Mitkämpfer und Nachfolger, Altbundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg, über den ehemaligen Generalsekretär der Vaterländischen Front und Altlandeshauptmann Dr. Karl Maria Stepan bis zu Bundesminister Kreisky, der vor einem Vierteljahrhundert als junger sozialistischer Student vor einem Gericht des autoritären Staates stand, reichte der große Bogen der Befragten. Gesinnungsfreunde Dollfuß’ kamen genau so zu Wort wie Menschen. die auch heute noch tiefen Groll gegen alles, was sich mit dem Namen Dollfuß verbindet, im Herzen tragen. Aus kleinen Steinen baute Shepherd sein Bild von Engelbert Dollfuß: dem kleinen Sohn, den die Bauerntochter Josefa Dollfuß 1892 im niederösterreichischen Texing ledig zur Welt bringt, der dann im Hause seines Stiefvaters Schmutz wohlgelitten aufwächst. Der Verfasser begleitet den jungen Freiwilligen der Tiroler Kaiserschützen in den großen Krieg und erkennt sehr richtig, welches — um ein Wort von heute zu gebrauchen — „existentielles Erlebnis“ die Jahre in der graugrünen Uniform für den* Oberleutnant Dollfuß und seine Generation bedeuten. Wieder in der Heimat, nach dem verlorenen Krieg und der Auflösung des alten Vaterlandes, sieht Shepherd diese Generation in der Herzmitte Europas um ihren Weg in die Zukunft bitter ringen. Nichts ist fest, alles fließt. Die Gegenwart ist trostlos, die Zukunft verhangen. Die sozialistischen Führer lenken den Blick der nach sozialer Gerechtigkeit hungernden Massen auf die Schimäre der „Internationale“. Das Bürgertum schwankt zwischen schwarzrotgoldenen Erwartungen und schwarzgelben Erinnerungen. Und Österreich? Es scheint wirklich nichts anderes zu sein als der Name für 81.879 Quadratkilometer, die vom alten Reich der Habsburger übrigblieben. Als zu Beginn der dreißiger Jahre der Würgegriff der Wirtschaftskrise immer drückender wird, als vom Süden und Norden schwarze und braune Schatten der Diktatur über die Donau- und Alpenrepublik fallen, wird der Bauembub aus Texing als erster die rotweißrote Fahne hochreißen. Er will, quer durch alle Parteien, die im Begriff sind, in ihren Intrigen und in der Routine des Alltags sich zu erschöpfen, eine „Vaterländische Front“ formiert sehen, die allen drohenden Gefahren begegnen soll. Die Idee ist groß — die Wirklichkeit viel bescheidener. Aus einer Front aller staatsbejahenden Öster-

reicher, die von weit rechts bis weit links reichen müßte, wird nur eine neue Bezeichnung für eines der drei historischen Lager der österreichischen Innenpolitik. Der Appell an den Patriotismus hat gezündet, aber nur im Widerstreit gegen die Demokratie und die bestehende Verfassung. Dollfuß kämpft, irrt und fällt schließlich. Vier Jahre nach seinem Tod werden die rotweißroten Fahnen herabgeholt. Anscheinend für immer. Aber wenn in den Jahren der Gewalt der Glaube an dieses Land hochgehalten wird, wenn sich nun die wirkliche Front des Vaterlandes langsam bildet, in die sich der ehemalige Schutzbündler neben seinem Widersacher von 1934, dem Heimwehrmann, genau so einordnet wie der katholische Mittelschüler und der Legitimist, wenn zu diesen schließlich sogar auch mancher enttäuschte ehemalige nationalsozialistische Idealist stößt und die 1945 unter widrigsten Umständen neugegründete Zweite Republik unter ganz anderen Vorzeichen ins Leben tritt als der Staat von 1918, dann hat nicht zuletzt Engelbert Dollfuß in seinem Kampf genau so wie in seinen Irrtümern den nun klar zu er-

kennenden richtigen Weg gewiesen. Patriotismus und Demokratie sind einen langen Weg von Irrtümern gegangen, ehe sie zusammenfanden. Sie müssen nun für alle Zukunft zusammenblciben. Wehe dem Haus und seinen Bewohnern, wenn einer der Steine dieses Fundaments gelockert oder gar entfernt würde!

Vom Leben, Kampf und Sterben Engelbert Dollfuß’ berichtet Gordon Shepherd. Er setzt an als nüchterner Chronist, bald wird jedoch deutlich, daß der Autor für den Mann seiner Biographie warme Sympathie zu empfinden beginnt. Vor allem Dollfuß’ Erweckung des österreichischen Patriotismus findet bei dem englischen Konservativen größtes Verständnis. So großes Verständnis, daß dabei Dollfuß’ Widersacher, allen voran Otto Bauer, etwas „unterbelichtet" auf der Platte erscheinen.

Bei aller Aufgeschlossenheit für Dollfuß und seine Politik sind die Reserven des Autors gegen das Experiment des „christlichen Ständestaates“ jedoch deutlich. Und hier steht er gewiß nicht allein. Der österreichische Nachkriegskatholizismus ist mit seinem anläßlich des Katholikentags 1952 veröffentlichten Manifest deutlich von ähnlichen Gedankengängen abgerückt. Alte Mitkämpfer Dollfuß’ bekennen offen, daß sie erkannt haben, wie ungeeignet Enzykliken sind, um in Verfassungstexte umgemünzt zu werden. Zudem wissen wir heute, wie wenig schließlich der Verfassung gewordene Entwurf aus einem Guß war. Viele Einflüsse und Einflüsterungen des „Zeitgeistes“ haben mitgespielt. Und dieser war damals der der „starken Männer" in Mitteleuropa. Trotzdem verdient festgehalten zu werden, daß wiederum die Zweite österreichische Republik gar nicht so wenige ständische Gedanken zwar nicht in ihre Verfassung, aber in ihren praktischen politischen Alltag aufgenommen hat.

Dollfuß’ Leben — Dollfuß’ Sterben. Dem letzteren gilt ebenfalls Shepherds besonderes Augenmerk. Er konnte dabei als erster den sogenannten Weydenhammer- Bericht auswerten, den der Wiener Universitätsdozent Dr. Jedlicka in absehbarer Zeit veröffentlichen und kommentieren wird. Vielleicht hat Shepherd diesen Bericht — er erfolgte nach dem Jahr 1938 zur höheren Ehre des Verfassers an eine hohe deutsche Reichsstelle — etwas zu un- kritsch aufgenommen. Allein: neben einigen recht bitter-ironischen Kommentaren über die Tätigkeit bzw. Untätigkeit der österreichischen Sicherheitsorgane in entscheidenden Stunden fällt der Scheinwerfer wieder einmal auf die „rätselhafte Gestalt“ des Majors Fey. In ihm hat das kleinere Österreich sein „Wallenstein- Problem”. Es wird noch manche Historiker der Zeitgeschichte beschäftigen.

Nun noch zu der Liste der kleinen oder weniger kleinen Fehler, die sich in Shepherds Werk eingeschlichen haben. Sie ist nicht ganz kurz und ihre Ursache dürfte wahrscheinlich in einer etwas flüchtigen Endredaktion während der Übersiedlung nach London liegen. Die folgenden „Errata“ erheben noch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dollfuß’ Vater hieß nicht Wenninger (S. 19), sondern Weninger. Die langjährige Sekretärin von Dollfuß, Alice Riippel, wird sich nicht freuen, als Frau Ruppel Eingang in die politische Literatur gefunden zu haben (S. 32). Im Kabinett Buresch war Dollfuß keineswegs Handelsminister, wie Shepherd anführt (S. 69). Dieses Ressort hatte damals, wie so oft auch später, Eduard Heini in Händen. „Österreichs erste und einzige sozialistische Regierung“? (S. 79). Die gab es bisher nicht. Gemeint ist die rot-schwarze Koalitionsregierung Renner 1918 bis 1920. Leopold Kunschak wäre erstaunt, sich als Führer des „liberalen Teils der Christlichsozialen Partei" (S. 74) vorgestellt zu sehen. Liberal und demokratisch mögen in England zwei Namen für ein und dasselbe Ding sein. Die österreichische Wirklichkeit ist diffiziler. Ob unser verewigter Gründer, Friedrich Funder, an seiner Berufung post mortem in den „Gemeinderat“ (S. 152) seine besondere Freude gehabt hätte? Wir glauben kaum, eher schon seinen Spaß an einer Falschmeldung. Daß die Wache des Ballhausplatzes keine Munition hatte, ist eine alte, zählebige Legende (S. 304). Auch ohne diese sind die Vorgänge des 25. Juli trist genug. Noch etwas: Die Worte „alldeutsch" und „großdeutsch" werden ziemlich summarisch gebraucht, doch bezeichnete (und bezeichnet) jedes der Worte eine andere Facette einer bestimmten Geisteshaltung.

Doch das alles sind kleinere Fische. Ein Buch liegt vor, das uns einen der um- kämpftesten österreichischen Politiker der letzten Jahrzehnte menschlich näherbringt und sein Handeln politisch verständlich machen will. Vom „Heldenkanzler“ sprechen heute nicht einmal mehr die Freunde, wenn die Rede auf Dollfuß kommt. Mag Shepherds Buch mithelfcn, daß auch das böse Wort „Arbeitermörder“ einer gerechteren Beurteilung vor dem Forum der Geschichte weicjit. Zurück bleibt das Schicksal eines Österreichers, der lange vor dem 25. Juli 1934 bereit war, mit seinem Leben seine Politik zu decken.. Wer von den Menschen, die heute Verantwortung tragen, ist zu einem solchen Opfergang bereit?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung