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Henri Cartier-Bressons Mexikanisches Tagebuch

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Er habe die Ewigkeit Mexikos fotografiert, bescheinigte Carlos Fuentes seinem Freund Henri Cartier-Bresson, dem großen französischen Fotografen. Zweimal bereiste der 1908 geborene Cartier-Bresson Mexiko, weitere dreißig Jahre später stellte er Bilder beider Reisen, Schwarzweißfotografien auch in höchster technischer Vollendung, zu einem „Mexikanischen Tagebuch 1934 - 1964" zusammen. Der Umstand, daß es auf Anhieb kaum möglich ist, zu sagen, welche Rilder 1934, welche 1964 entstanden seien, gibt Fuentes recht: Der Großmeister der Reportagefotografie hat das zeitlose Mexiko, und Mexikos Zeitlosigkeit, mit seiner Kamera eingefangen.

Es sind großartige Bilder. Idyllische Bilder, menschlich berührende Bilder, Bilder der Brutalität, und der Text von Carlos Fuentes ist diesen Bildern völlig adäquat: „Mexiko ist eine einzige weite Wunde, eine mit Ma-schiengewehrsalven tätowierte Mauer, ein mit Messerschnitten zerfetzter Nopalkaktus, ein Altar aus goldenen Tränen. Doch an der Mauer steht ein Mann mit einer Zigarre im Mund, korrekt aufgesetztem Hut, einem Hemd ohne Kragen, die Hände in den Gürtel gesteckt, und er sieht das Erschießungskommando mit einem Lächeln an, das ihm übers ganze Gesicht reicht. ,Macht's mit eurer Mutter, ihr Hurensöhne!'"

Stärker als manches Bild eines toten Kindes spricht Mexikos Situation (auch heute, 60 Jahre später) aus den zum Verkauf bereitstehenden Kindersärgen. Ein Mann im Rinnstein läßt nicht erkennen, ob er tot da liegt oder nur wie tot. Ein Grab mit umfallendem Kreuz mitten in der Landschaft wird bald verlorengehen.

Die Gesichter unter den Sombreros verifizieren den Satz Carlos Fuentes', daß ein Rlick in Mexiko gefährlich sein und mancher Rlick töten kann: „Warum siehst du mich an? Wenn dieser herausfordernde Satz während einer trüben Nachtstunde in der Kneipe oder um Mitternacht im Bordell gesagt wird, wo tief umschattete Augen und Schminke das Bild bestimmen, oder wenn er auch im bedrohlichen Stau auf der Stadtautobahn von Wagen zu Wagen herübertönt, kann er tödlich sein, vor allem, sobald man Beleidigungen hinzusetzt ... Wie soll man den Blick verbergen, damit er nicht tötet, uns nicht tötet und uns trotzdem erlaubt, weiter zu sehen? Wie soll man den Blick vor der Bedrohung durch den anderen retten, durch den Henker, den Ausbeuter, den herausfordernden Macho, den korrupten Polizisten, den korrumpierenden Beamten? Die radikale Antwort ist der Tod."

MEXIKANISCHES TAGEBUCH

Von Henri Cartier-Bresson Schirmer j Mosel Verlag, München 1995. 84 Seiten, 54 Tafeln (Tritone), Ln, öS 588,-

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