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HERBST DES MITTELALTERS

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Wenn man heute staunend und ergriffen vor den Kunstwerken der Zeit zwischen 1370 und 1430 steht, ihrem graziösen Linienspiel und stillen Glanz, erinnert nur manchmal die seltsam brüchige und dekadente Form daran, daß diese Zeit an Wirrnissen und Katastrophen reicher als die unsere war. — Es war die Zeit Jeanne d'Arcs, Wiclifs und Hus', des großen Schismas, eines hundertjährigen Krieges, blutiger Meuchelmorde und Fehden, die Zeit der Lancasters und Yorks. Selbst die Natur schien damals gegen den Menschen in Aufruhr.

Kometen durchzogen unheildrohend den Nachthimmel und verbreiteten Angst und Schrecken, Stürme und Heuschreckenschwärme verwüsteten die Lande, ein Erdbeben verheerte Villach und dreißig umliegende Ortschaften. Doch die grausamste Geißel der Völker war die des „Schwarzen Todes“, der Beulen- und Lungenpest. Seit 1348 wütete diese furchtbare Seuche in Europa, ein Viertel der Bevölkerung in intermittierenden Ausbrüchen dahinraffend und moralische, religiöse und politische Auflösung mit sich bringend. — In großen Scharen zogen singend die „Geißler“, die Flagellanten, von Ort zu Ort, erklärten die Geistlichkeit für überflüssig und verdammten sie und die Laien gleichermaßen für ihre Sünden. Viele wurden damals von jener Massenhysterie ergriffen, die sich als Veitstanz äußerte, und die Kinder von Schwäbisch-Hall veranstalteten eine Wallfahrt zum Mont St.-Michel in der Normandie.

“pin allgemeiner Schauer des Untergangs hatte seit langem die -J Bevölkerung erfaßt, das tiefe Ahnen davon, daß etwas unwiderruflich zu Ende ging und ein geheimnisvolles Neues geboren wurde. Der Boden schien allen unter den Füßen zu wanken. Diese Weltuntergangsstimmung bewirkte auf der einen Seite Weltflucht, auf der anderen zügellosen Sinnengenuß. Der große Begriff der Universalien des Mittelalters war zerbrochen, die geistige Macht der Kirche erschüttert, und Fatalismus und Subjektivismus traten hervor. Die von oben um sich greifende Anarchie bewirkte einen die Sinnenwelt betonenden Materialismus: Das Gold und der Handel beginnen zu herrschen.

Drei große Schlachten brachten das Ende der Ritterschaft, in der früher ein starkes sittliches und formgebendes Element gelegen hatte: jene bei Sempach, die bei Nikopolis — in der die Blüte des französischen Adels von Sultan Bajazet dahingemäht wurde — und die bei Azincourt. In der ersten und letzten Schlacht waren es die Bauern und Handwerker, die siegten, die eine innerlich bereits verrottete Kaste in den Staub warfen. Damit war auch die Zeit der Burgen vorüber, und die der Städte brach an. — Politisch war diese Epoche von unvorstellbarer Verworrenheit. Politik und Diplomatie beruhten auf dynastischer und persönlicher Selbstsucht. Kinderkönige und -fürsten, die über dem Schachspiel in Streit gerieten, führten gegeneinander Kriege, Rache und Vergeltung spielten eine entscheidende Rolle.

In Mitteleuropa herrschte damals das schillernde, farbenprächtige Geschlecht der Luxemburger, das in seinen in Extremen ausgeprägten Persönlichkeiten so recht zum Sinnbild dieser Zeit wird, die sich durch äußerste Leidenschaftlichkeit und Zügel-losigkeit kennzeichnete. Ihre Menschen waren wie Kinder in der Pubertät. Bald zu Tränen gerührt, bald von unvorstellbarer Grausamkeit, lebten sie in einer nervösen Spannung, die ihren Ausdruck in einer hybriden, sensuellen Form fand, in einer dauernden Flucht vor dem als Leid empfundenen Dasein, das man in der Welt der Schönheit, der Minnehöfe, der Paradies-gärtlein, der Spiele und Feste zu verklären suchte.

Der Glaube an Dämonen und die Herrschaft des Teufels über die Welt war dabei allgemein, die satanische Gestalt eines Gilles de Retz ist dafür symptomatisch. Die erstaunliche Unsittlichkeit der Zeit, die sowohl die Höfe wie den Klerus als auch das einfache Volk erfaßt hatte, ist nur ein Zeichen der Hemmungslosigkeit der Epoche, die sich auch in den bizarren Erfindungen der Mode ausformte.

Daß sich die vorhandenen Widersprüche mit ihren sich berührenden Extremen in der großartigen Wiener Ausstellung zu einem einheitlichen Bild verklärender Schönheit und spiritueller Ausstrahlung zusammenschließen, ist nur dem Mysterium der Kunst zu verdanken, das selbst Schmerz und Not in das göttliche Leuchten höchster menschlicher Aspiration zu verwandeln vermag.

T“\er bedeutungsvolle Wandel in der Geistigkeit der Epoche, ' der den Untergang des Alten und das Heraufkommen des Neuen charakterisiert, zeigt das Auftreten der Bildnisse in Plastik und Malerei. Es ist nur ein Teil des neuen Bewußtseins für die Wirklichkeit der Natur, die nun in immer stärkerem Maß zur Darstellung kommt: Der Mensch wendet seinen Blick von der Kontemplation des Ewigen ab und beginnt jene Entdeckungsreisen in die Welt, die ihn an ihre äußeren und inneren Grenzen führen sollen. Die Eroberung der Naturwirklichkeit nimmt dabei ihren Ausgang von der Buchmalerei, die nun immer mehr Elemente realistischer und genau beobachteter Natur zum Schmuck der Stundenbücher, Psalter und Romane heranzieht. In der Wenzelsbibel sind es Bademägde und Badende, die sich in das elegante Liniengerank einschieben, in italienischen Handschriften Schmetterlinge und Vögel, in französischen Szenen aus dem Volksleben, die zur Verdeutlichung des Jahreslaufes dienen und damit zu Ahnen der Monatsbilder Breughels werden. Ergreifend ist die leidenschaftliche Freude, die Lust, mit der dem Kleinen und Kleinsten nachgegangen wird, der Ernst, mit dem die Bewältigung der entdeckten Vielfalt und Schönheit in exaktem Realismus versucht wird. Das Detail nimmt bei den geringeren Künstlern überhand, bei den größten wird es auf additivem Weg in eine übergeordnete Einheit gebunden.

Auch das menschliche Gesicht in seiner Einmaligkeit, in der Unverwechselbarkeit, die es als Ausdruck einer Persönlichkeit besitzt, als Träger psychologischer Regung und Erregung, ist Terra incognita, die Maler und Bildhauer werden zu seinen Entdeckungsreisenden und Kartographen. Die Bildniskünstler der Zeit, von denen einer der frühesten der Maler Herzog Rudolfs des Vierten von Österreich ist, gehen in andächtiger Betrachtung den Erhebungen und Senkungen der Antlitze nach, den Spuren, die die Zeit in sie gegraben hat, und in den Meisterwerken der van Eycks, Roger van der Weydens, des Meisters von Flemalle werden sie zu einer Dokumentation der Wirklichkeit zusammengefaßt, in der das Psychologische in der äußersten Akribie des Details, das sich trotzdem zur Gesamtform addiert, aufgeht. In dem selbstbewußten Ernst dieser Porträts liegt der neue Anspruch, den diese Menschen anmelden, den sie sogar gegenüber dem Göttlichen behaupten. Es ist kein Zufall, sondern tiefster Ausdruck einer neuen seelischen Wirklichkeit, daß in dem Bild der „Madonna mit dem Kanzler Rolin“ der Kanzler in gleicher Größe mit der himmlischen Erscheinung dargestellt ist, die Madonna nur durch den sie krönenden Engel, das Jesuskind nur durch die als Reichsapfel dargestellte, mit dem Kreuz gekrönte Kugel, aus dem Bereich unmittelbarer Menschlichkeit gehoben erscheinen. Und fast wird die im Hintergrund durch Säulenbogen sichtbar werdende Natur mit dem wimmelnden Leben ihrer Stadtlandschaft, dem grünen Schmelz und blauen Glanz der Hügel zum Hauptakteur des Bildes, wie auf der „Anbetung des Lammes“ die mächtig herbeiziehenden Adoränten und die Landschaft das geistige und reale Zentrum des Bildes, das Lamm Gottes, zu überwältigen drohen. Diese neue Wirklichkeit ist es, die übermächtig wird. Sie zeigt sich in dem Antlitz des großartigen „Pleurant“ von Claus Sluter, dessen grobknochiges Mönchsantlitz nicht einen Typ, sondern eine Persönlichkeit charakterisiert, in der Madonna von Masolino, in der der Raum zwischen dem Körper des Kindes und der Mutter, die Erscheinung der Sinnlichkeit im Stofflichen neue Bereiche öffnet, und in der erschütternden Terrakottafigur des seine Seitenwunde zeigenden Christus aus Florenz, in der sich ein subtiles Gefühl für Rhythmus und Verschiebung der Achsen mit einem Realismus paart, der in seiner Direktheit und edlen Anmut einzigartig dasteht.

Mit dieser neuen Darstellung des Menschen tritt auch der Künstler endgültig und entschieden aus dem Bereich der Anonymität, seine Persönlichkeit wird faßbar und in Anekdoten dokumentiert, der bürgerliche Bereich, die aufkommenden Städte, die Gilden und Zünfte beginnen sich gegen die Höfe zu behaupten.

T n der Kirchenbaukunst überwiegen die städtischen Pfarr--1 kirchen, die bürgerlichen Repräsentationsbauten und Wohnbauten nehmen zu, die Burgen werden zu Schlössern.

Neben die Wand-, Glas- und Miniaturmalerei tritt in führender Stellung der Tafelaltar, der mit der neuen Technik der Ölmalerei ein vielfältig gegliedertes, aber noch architektonisch gebundenes Bild der Welt erlaubt. Die Handzeichnung als Mittel zum Studium der Natur, als Werkzeichnung, gewinnt an Bedeutung, naturwissenschaftliche, chirurgische Handbücher entstehen, die Bestandsaufnahme der Welt, ihrer Vielfalt, Formen und Seltsamkeiten, auch auf wissenschaftlichem Gebiet, beginnt.

Daneben zeigt sich der soziale Anspruch der neuen Stände, des Bürgertums, im Aufkommen der Druckgraphik, die die Anteilnahme von vielen an den Werken der Kunst und ihren Inhalten ermöglicht.. Sie wird zur ersten Mittlerin von profanen Inhalten, die sich auch in den Bildteppichen mehr und mehr verbreiten.

Ubergeordnet allem wird der Begriff der Schönheit, der „Bellezza“, wirksam, der als Erlösung aus der grausamen Wirklichkeit durch ihre Verklärung in künstlerischer Form die Grundlagen zur Stilisierung und Idealisierung liefert, die später entscheidend für die europäische Kunst werden. Als weiteres Mittel zur Bewältigung der neuentdeckten räumlichen Wirklichkeit wird schließlich um 1415 die wissenschaftliche Perspektive entdeckt.

Der Begriff der Schönheit scheint allerdings schon in dem sogenannten „weichen Stil“ beschlossen, dessen morbide Harmonie internationale Verbreitung erfuhr. In seiner kraftlosen Dekadenz, den erschlaffenden Rhythmen und der gesuchten, raffiniert disharmonischen Farbgebung mutet er wie der „Jugendstil“ dieser Zeit an. Er kündet von dem Niedergang der einst kraftvollen Erfüllung, der nervösen, ja schwülen Erwartung des Neuen, das mit ihm fast gleichzeitig in großen Persönlichkeiten entsteht.

Damit erweist sich die Zeit um 1400 als eine vielfältig schillernde Wende, die den Verfall und die Wiedergeburt in sich trägt. Die Ausstellung im Kunsthistorischen Museum dokumentiert sie in einmaliger und überwältigender Weise.

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