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HERBST VOR DER STADT

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Langsam kommt der Abend über den Hügel. Das Licht ist vom langen Tag müde geworden. Der weite sehnsuchtsblaue Himmelsraum verengt sich und neblige Rauchschwaden spinnen ihre Fäden über die stille Landschaft. Es ist eine schwermütige Stunde, wenn der Flügelschlag der Zeit erlischt.

Zwischen den drohenden Lanzen der Napoleonspappeln eilt das Leben auf der Landstraße zu den silbernen Abendwolken, die in perlmutterner Ferne über dem dunstigen Horizont schweben. Lautlos sinken die Schatten über die Peripherie der Stadt. Aus den Gassen leuchten die goldenen Augen der Fenster. Uber die stille, ruhende Welt wölbt die warme Nacht einen Sternenflor der Geborgenheit. Ein leiser Odem, ein letzter schlaftrunkener Hauch wandert über die Wiesen und Teiche. Gottes nächtliche Gedanken • flüstern im schwankenden Schilf. Ich blicke hinauf in den Ldchtzauber des Himmelsgewölbes. Dunkle Pfeile einsam wandernder Wildentenzüge gleiten dort oben unbeirrbar auf ihrer ewig sehnsuchtsvollen Bahn. Der Silberfall der Leoniden überglänzt ihren nächtlichen Weg unter den schimmernden Sternbildern.

Seit meinem frühesten Kindheitsmorgen ist mir hier alles zutiefst vertraut Die Vergangenheit blättert ihr koloriertes Bilderbuch auf: mit Sommer, Winter, Frühling und Herbst. Erlebnisse, Begebenheiten, Schmerzenstränen und Preuden-schimmer. Ein bunt gepinseltes Konglomerat von vielen verwehten, unvergeßlichen Ereignissen, zusammenfließend aus unzähligen kleinen Wellen jahrzehntealter Emotionen zu einem spiegelnden See.

Diesen Weg, mit den ersten unsicheren Schritten an der Hand meiner Eltern begonnen, bin ich oft später allein oder inmitten des sommerheißen Menschenstromes heraufgezogen. Die endlos scheinende gepflasterte Straße entlang, an Schrebergärten und Fabriksplanken vorbei. — Wenn auch der herbe Zug im Antlitz dieser Gegend sie oft flüchtiger Betrachtung reizlos erscheinen läßt, so ist sie dennoch überglänzt von einem heimlichen, trostreichen Glorienschein Gottes.

Ganz oben angelangt, bietet sich die Stadt von ihrer vielleicht unvergeßlichsten Seite. Die blaue Linie des Wienerwaldes schwebt wie ein musikseliger Violinschlüssel über der Silhouette der Kuppeln und Türme und dem schiefergrau und moosgrün schillernden Meer der Dächer. Darüber, des im Widerschein der Asternbeete strahlenden Ätherblaus, wiegen sich die Farbkleckse der Drachen im frischen Wind.

Das Jahr verglüht in seinem Alter, jedes für sich eine Zauberkugel. Langsam reihen sie sich aneinander zum Glockenspiel unseres Lebens. Hin und wieder bewegt sie Gottes Atem i— er streicht darüber hinweg, und sie schaukeln auf und ab in einer schmerzlichen Brise.

Von allen Seiten eilen die Wege quer durch die Felder den Teichen zu. Leuchtend blaue Himmelsaugen sind sie mitunter an klaren Sonnentagen. Und doch netzt auch ihre lehmigen Gestade noch der große Wellenschlag des stadtfliehenden Verkehrs. Rund um die sprühenden Uferwasser pulsiert das Leben mit voller Lautstärke. Lachen und Kinderweinen verwehen in der pausenlosen Musik unzähliger Kofferradios und dem zagen Gebimmel der Glocken der Gefrorenes-Verkäufer, die mit weißrotlackierteivzweirädrigen Karren die staubigen Wege entlang fahren. Ihnen allen reitet die Vorstadt-Riviera entgegen auf schäumenden Wellenkronen. Der Wind, der über die Felder streicht, trägt den Zauber von fernen Ufern auf seinen Schwingen.

Eine frohgestimmte Natur leuchtet ringsum auf die bewegte Szenerie: die violetten Schatten der Hohen Wand, die verdämmernde Bergtreppe hinter dem Liesingtal, der dunstzerfließende Konturenflor von Liechtenstein und aus der flimmernden Ebene des Steinfelds die Kampanilen von Lanzendorf. Im spinnwebzarten Schatten der grazilen Funktürme langweilt sich ein von den zurückgefluteten Wellen des sarmatischen Meeres verlassener Trompetenbaum.

Die Gewalt der sonntäglichen Heerzüge über den Berg verebbt auf der weiten, gräserwippenden Hochfläche. Tausende tauchten unter in das grüne Blattwerk der Wirtshausgärten und verlieren sich im Tumult der Drehorgeln und Ringelspiele. Wenn ein warmer Regen unvermutet herunterströmt, flüchtet alles unter die dichten Schirmdächer der alten Akazien. Die Kinderzeit rollt dahin mit den stacheligen Kugeln und zerplatzt wie eine lange ängstlich behütete Schaumblase. Braunpolierte Kastanien rollen über den Weg.

Der Geruch der Reben steigt auf von den sonnigen Hängen, und die Heurigenschenken füllen die Ränge um die Stadt wie eine riesige Arena. Das goldene Fest des römischen Gottes Saturnus reift heran. Die Standarten der grünen Buschen wehen verheißungsvoll im Wind. Unsterbliches Symbol der Weinlese. „Verkaufts mei Gwand...“ Sind es nicht auch wienerische Saturnalien, verdämmertes Ebenbild und ewige, unsterbliche Fortsetzung, da Herren und Sklaven ihre Gewänder tauschten als Zeichen menschlicher Verbrüderung?

Ein leuchtend gelbes Blatt sinkt lautlos zu Boden. Saturn, Gott der Saaten, schreitet unsichtbar durch die Kulturen der goldenen Herbsttage. Auf leichten Sandalen ist Probus, der Imperator, unterwegs. Sein zeitloser Schatten wandert ruhig über die Rebenhänge seiner Lerchenlegion, der Legio decima gemina pia fldelis — der frommen und getreuen.

Die letzten Badefreudigen versickern in den Gassen. Stumm blicken die großen Augen der Sonnenblumen in das Antlitz der Landschaft. Wenn der November kommt, bereitet sie sich wieder auf das große Anbeginnen vor. Alles Neue webt schon unsichtbar unter den Fluren. Die Felder rüsten für den Winterschlaf, Nebel, Reif und Feuchtigkeit werden die ruhende Erde sättigen.

Der Fasan fliegt auf vor dem flüchtigen Schritt. Eine Schnecke zieht über den Feldweg. Ihre glitzernde Spur leuchtet wie ein flammendes Kielwasser im Abendschein.

Alles atmet in einer tiefen Gewißheit. Was auch kommen mag aus der Zukunft funkelndem Stern: ein bedeutungsvolles Augenzwinkern des Glücks, oder die letzte wehmütige Erkenntnis eines umsonst vertanen Lebens. Wir werden es ewig hinnehmen, uns richten nach Gottes Schnur.

Hinter den welkenden Gärten verblutet ein Tag. Kein Platz ist in mir, der von Unruhe, Haß oder Begierde erfüllt wäre. Trotz meines Alleinseins fühle ich mich nicht an ein vergessenes Ufer gebannt. — Wie könnte ich auch, mitten in dieser allumfassenden Verbrüderung, die ringsum vor sich geht.

Ich sitze im wehenden Dämmern der Baumkronen, und wie ein schimmerndes Vogelgestöber steigen die Gedanken hinauf zu den wandernden Wolken, den wunschbeladenen, rötlich überhauchten Seglern in der Unendlichkeit

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