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Hier reckt sich der Materialist

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Offen ist die Physis. Naturrecht ist Recht kraft Physis im griechischen Ursinn: physei dikaion. Die Physis ist der Grund des Rechts, sie konstituiert positives Recht, bedingt es: Sie ist das „Natürliche“ am Nomos, zum Unterschied von dem, was an ihm „gesetzt“, „gewillkürt“ ist. Weil sie vorweg und allemal Bewegung und Bewegtheit ist, deshalb ist das Recht im Gründe offen, bewegt, Prozeß -nicht S t at i k, nicht“ nunc stans, vielmehr nunc fluens. Naturrecht wird in der „Ontologie des Noch-nicht-Seins“ (Bloch) durchsichtig. Anders gewendet: „Das Wirkliche ist Prozeß“ („Prinzip Hoffnung“ I, S. 225). Wer glaubt, daß Aristoteles und Thomas das Gegenteil lehren, der hat weder den einen noch den anderen jemals im Original gelesen!

Was die Bewegung anlangt, sind Hegel, Marx und Bloch mit Aristoteles innig verwandt. Allein, jetzt scheiden sich die Geister, jetzt kommt jener berühmte erste Knopf: steckt man ihn in das falsche Loch der Soutane, dann ist alles falsch. Bloch entscheidet sich zugunsten des Antiphon und Demokrit (auch Duns Scotus: ens infinituml), gegen Aristoteles und Thomas, dieweilen war für Antiphon, Demokrit und Bloch am Anfang das Regellose, das Verfassungslose (arrthythmiston prooton), in diesem Sinn: der „Stoff“, die „Materie“ (hylee). Hier reckt sich der Materialist, der freilich mit dem Bild der gängigen Vorstellung vom Materialismus, wie ein platter Antimarxismus uns es zeichnet, kaum etwas gemein hat. Weil Bloch in dem nämlichen Sinn durch und durch Materialist ist, leidet er unter einer starken Allergie gegen den Staat und das positive Recht, das er nicht nur korrigiert haben will, sondern im Grunde verdammt. In der Staatsferne eines Antiphon und eines Epikur, der die politische Ordnung als Fessel und Plage ausmacht, verrät sich der prinzipiell a-politische, formfremde Habitus des Marxismus, des Sozialismus: die Lehre vom Absterben des Staates!

Weil Bloch nicht den Wesensblick des Aristoteles und des Aqui-naten in die Ordnungsstruktur der Physis, der Natur nachvollzieht, deshalb glaubt er, daß Ordnung a priori Knechtschaft gebiert, deshalb wird er mit dem Grundproblem der Rechtsordnung, dem Verhältnis zwischen objektivem Recht (norma agendi) und subjektivem „Recht“ (facultas agendi), einfach nicht fertig. Das widerfährt allerdings überhaupt den Philosophen und Theologen, die keine Juristen sind. Einerlei, einem Denker von Format, wie es Bloch eignet, sollte es doch zu denken geben, daß es dem Kommunismus bisher nicht gelungen ist, das „Herr-Knecht-Verhältnis“ zu lockern, geschweige denn zu löschen; das einzige, was bisher gelungen ist, erschöpft sich im Wechsel der „Personen“ und ihrer „Darsteller“ (vergleiche etwa S. 178).

Wie froh könnte Bloch sein, wenn dei Kommunismus grundsätzlich das irrende Gewissen anerkennen würde! Nirgends trifft man den Gedanken an, daß Thomas dem demokratischen Element gegen das aristokratische und monarchische Moment den Vorrang einräumt (zum Beispiel zieht er deshalb jede Wahlmonarchie der Erbmonarchie vor). Vollends das Widerstandsrecht kommt in einer Weise zu kurz, die die Intention des aquina-tischen Werkes mißdeutet. Und' wo ist Gregor von Nyssa, der Kirchenvater, der die Menschenwürde „erfunden“ und die Sklaverei auf das schärfste verworfen hat? Was ist mit Las Casas und den spätscholastischen, spanischen Moraltheologen, die auf dem Boden ihrer Lehre von der unabdingbaren Menschenwürde das moderne Völkerrecht errichtet, den Satz von der Volkssouveränität geprägt haben?

Aber, siehe da, auf eine mysteriöse Weise gerät alles wieder ins Lot, die Knöpfe der Soutane treffen das eigene Loch: das allgegenwärtige Kompliment vor dem Rechtsstaat, wie bürgerlich er auch sein mag (S. 162 ff.); vor der rechts- und freistaatlichen Demokratie, vor Althusius, dem Protagonisten einer rechtsgeordneten Volkssouveränität; vor der Metaphysik; die Reverenz, die er dem Aquinaten erweist, wenn auch noch so verhalten; vor der Kirche, die im Rang höher steht als der Staat (Seite 311); die Einordnung der Politik unter die Ethik (S. 335 f.); die ontologisch und ideengeschichtlich recht gesicherte Vorordnung des Naturrechts vor der Moral, deren „wechselnde Wertproportion“ (S. 270 f., 275 f.); die Einsicht in die Wandelbarkeit des Menschen, der letztlich doch eine Konstante zugrunde liegt (S. 218 ff., 236); die Erkenntnis, daß nicht „geborene“ Verbrecher die Welt bevölkern, weil Freiheit am Werke ist (S. 286); die Bekräftigung des Sachverhaltes, daß das-,:Gerichtsgeschehen und die Spia-che des Rechts sowohl das Dichten wie das Denken von allem Anfang an tragen (S. 285 f.).

Gewiß, dem einen oder anderen Gedankengang wird nur folgen können, wer geschult ist im Marxismus, genauer im dialektischen Materialismus. Aber Bloch ist unterwegs. Er liebt Antigone, liebt Spartakus und Joachim di Fiore, diesen „Jesajas des 13. Jahrhunderts“ (S. 327), der die „mystische Demokratie“ intoniert; liebt Thomas Münzer, wie er Michael Kohlhaas liebt; liebt Epikur, nicht jene Gestalt, die der Alltag sich unter dem Gründer des „Epikurismus“ vorstellt. Er himmelt ihn als Vorläufer des Christian Thomasius an. Die beinahe 50 Seiten, auf denen er den wackeren Streiter für Männerstolz und Menschenwert skizziert, bieten — das Selbstporträt des Meisters feil. „Auch der Mensch, nicht nur seine Klasse hat... nicht gerne den Stiefel im Gesicht“ (S. 232), beharrt „auf dem Grundrecht, sich nicht als Kanaille behandeln zu lassen“ (S. 251). „Das naturrechtliche Anliegen war und ist das Aufrechte als Recht (Seite 237). Er stemmt sich mit aller Gewalt gegen die Gewalt, dessen nur eine Erscheinung der „Staatskapitalismus“ ist (S. 214, 248 f.); er stemmt sich dawider grundsätzlich und ohne Vorbehalt: „Das wegen einer Finalität, die immer nur verhindert, jedoch nicht eliminiert werden kann und die eben, stets angemeldet, aufrechter Gang auf bewohnbarer Erde heißt — ohne Tyrannei der Fabrik, ohne Fabrik der Tyrannei“ (S. 257). Das Mißtrauen gegen das positive Recht durch-stimmt das Werk insgesamt; wo dieses, das vorhandene positive Recht, allein herrscht, dankt das Recht ab, officio ab. Das ungesalbte Naturrecht (Seite 324) ist das wahre Fundament, das Menschenwürde trägt.

So zwingt sich die letzte Konsequenz auf: der Anflug eines Glaubens an das Ewige der Katholizität (S. 314, 340). Was nützt es, die Welt zu gewinnen, wenn ein einzelner Mensch den Rücken krümmen muß?

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