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Mythen: Himmel, Hölle, Geisterwelt

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Mythen sind eine Landkarte der menschlichen Seele. Kein Wunder, daß das literarische Interesse am Mythos ungebrochen ist.

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Mythen sind eine Landkarte der menschlichen Seele. Kein Wunder, daß das literarische Interesse am Mythos ungebrochen ist.

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Die griechische Mythologie ist ein Netz, das die gesamte menschliche Existenz umspannt", schreibt Michael Köhlmeier im Nachwort seines Sagenbuches und gibt damit treffend Antwort auf die Frage, worin die unvermindert anhaltende Faszination des Mythos begründet liegt: „Himmel, Hölle, Geisterwelt und banalste Realität - alles, was unter unserer Schädeldecke Platz hat, wird in Bilder gefaßt."

Mythen sind so alt wie die Menschheit selbst, ja bereits unverzichtbarer Teil des abendländischen Bildungsgutes und als solcher aus unserem Leben kaum mehr wegzudenken: Auf den Jacken der Fahrradkuriere prangt Hermes, benannt nach dem Gott mit den Flügelschuhen, der Botschaften in Windeseile zu den jeweiligen Adressaten bringt. Vertraut sind uns Begriffe wie Sisyphus-Arbeit, Ödipuskomplex oder Odyssee; und wohl keinem Lateinschüler sind die unzähligen Verwandlungskünste des Zeus in der Verführung schöner Frauen entgangen oder der Raub der Kore, deren Verschwinden Verlust der Vegetation bis zu ihrer Wiederkehr im Frühling bedeutet, übrigens ein schönes Symbol für den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens in der Natur.

Einst wurden Mythen von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Auch heute geistern sie noch nach wie vor durch unser Denken und prägen unser Unbewußtes. Weil hinter ihnen Grunderfahrungen des Lebens stehen, helfen sie, die eigene Existenz in einen sinnstiftenden Kontext zu stellen. Diese emotionale Berührung läßt sich auf die Vertrautheit ihrer Muster zurückführen. Sie entsprechen, wie Mythenforscher meinen, der Landkarte unserer Psyche.

Interessant erscheint jedenfalls, daß auch nach dem Zeitalter der Aufklärung das literarische Interesse am Mythos ungetrübt vorhanden ist. Autoren fühlen sich von ihnen t>b ihres schöpferisch-kreativen Potentials nahezu angezogen. Neben den Klassikern, Thomas Mann, Bert Brecht oder Franz Kafka geben heute Peter Handke, Christoph Ransmayr und viele andere dem Mythos breiten Raum. Unübersehbar ist thematisch gesehen die Renaissance in der Aktualisierung des Odysseus-Stoffes. Inge Merkel hat in ihrem Ruch „Eine ganz gewöhnliche Ehe" diese leidgeprüfte Reziehung zwischen Odysseus und Penelope aus weiblicher Perspektive neu erzählt, auch Köhlmeier oder Walter Grond besetzen das heroische Terrain des griechischen Paradeabenteurers. Grond will sich mit „Absolut Homer" keinesfalls im Sog der aktuellen Euphorie um Odysseus sehen. Vielmehr sei er der Frage nach dem europäischen Autorbewußtsein nachgegangen.

Ähnlich wie damals, als sich mit dem Auftreten Homers (oder was sich sonst hinter diesem Namen verbergen mag) sukzessive eine Wende zur Schriftkultur abzeichnete, steht der Autor heute wieder vor einer Umbruchsphase, in der die Frage der Autorschaft angesichts der digitalen Medien neu gestellt werden muß. „Absolut Homer" trägt zukunftsweisend die Handschrift eines Autorenkollektivs.

Besonders nachdrücklich und konsequent zeigt sich die Beschäftigung mit Mythen in der Frauenliteratur der letzten 20 Jahre. Dahinter steht die Intention, das defizitäre Bild von Weiblichkeit im Mythos bewußtzumachen und zu korrigieren. Kaum irgendwelche anderen Stoffe präsentieren Frauen in einem so rigiden Kaleidoskop von Rüdem.

Der Rogen patriarchaler Rollenzuschreibungen spannt sich vom bedrohlich-verführerischen Wesen, verkörpert in der Gestalt Pandorras, Undines oder Lulus, bis hin zur idealisierten Frau - exemplarisch zementiert in Penelope. Die Frau wird auf ihren Körper und ihre Sexualität reduziert, an das Haus fixiert oder vom gesellschaftlichen Mitspracherecht ausgeschlossen.

Seit dem Erstarken der Frauenbewegung in den siebziger Jahren bemüht man sich um die Rekonstruktion einer „verborgenen Kultur von Weiblichkeit", die sich aus Schnittstellen des Aufeinandertreffens kultureller Geschlechterkämpfe ergibt. Damit wird ein Spektrum von Mythen freigelegt, in denen archaische Bilder matriarchaler Provenienz noch ihre Schatten auswerfen.

Die Autorinnen nehmen gängige mythische Sujets unter die Lupe und entlarven dahinterstehende patriarchale Ideologien und „imaginierte Weiblichkeit" (Silvia Rovenschen). Dabei wiederentdeckte matriarchale Bezüge bilden die Grundlage für die Kreation neuer femininer Lebensformen. Dem weiblichen Gegen-Mythos kommt somit auch utopische Funktion zu.

Neben Ingeborg Bachmann, Barbara Frischmuth und Irmtraud Morgner, um nur einige zu nennen, hat besonders Christa Wolf ihr Interesse auf Frühgeschichte und Mythologie gerichtet.

Nach Kassandra hat die Autorin bereits einen zweiten Text über eine verkannte mythische Figur vorgelegt: Medea. Als Zauberin und diabolisches Wesen, das aus rasender Eifersucht die eigenen Kinder umbringt, ist sie vielerorts bekannt. Wolf entschärft das Bild von der Furie. Medeas Selbstbewußtsein im patriarchalen Korinth und die Entdeckung eines Geheimnisses machen sie verdächtig und unheimlich, ihre beiden Kinder werden jedoch von den rachesüchtigen Stadtbewohnern gesteinigt.

Die Autorin möchte in ihrem Text der wirklichen Medea begegnen und Verzerrungen zurechtrücken, die die männliche Geschichte um diese Figur gelegt hat: „Wir besitzen den Schlüssel, der alle Epochen aufschließt, manchmal benutzen wir ihn schamlos, werfen einen eiligen Blick durch den Türspalt, erpicht auf schnellfertige Urteile, doch sollte es auch möglich sein, uns schrittweise zu nähern, mit Scheu vor dem Tabu, gewillt, den Toten ihr Geheimnis nicht ohne Not zu entreißen." (Medea. Stimmen)

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