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„Hinab zu den Müttern...“

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In der Mittelachse des Mittelstückes des Thermo-pylae-Triptychons von Oskar Kokoschka steht eine Figur, die die Finger ihrer linken Hand überlegend zum Mund führt und sich umsieht. Wir sehen diese Figur als den Zauderer an, als eine Personifikation der Gruppe der Griechen, die vor der Schlacht bei den Thermopylen unschlüssig blieb. Aber auf dem Bild wird deutlich, daß es noch nicht zu spät ist. Die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Die Schlacht ist noch im Gange. So wird uns die Figur des Zauderers zum Sinnbild des Menschen unserer Zeit: des Menschen, der sich seiner Verantwortung plötzlich, im Angesicht der Gefahr, bewußt wird und vor einer Entscheidung steht. Noch ist es unsicher, wie seine Entscheidung ausfallen wird. Es ist aber schon klar zu erkennen, daß sich dieser Mensch seiner Situation bewußt geworden ist und weiß, daß er nun zu wählen hat. Kokoschka selbst verlangt eine solche Deutung. Er schreibt im Vorwort zu einer Tafehnappe, die eine Reproduktion des Werkes gibt: „Dank des besonderen Wesens der griechischen Kunst, deren Bedeutung nicht bloß eine ästhetische, sondern ebenso eine ethische, mit dem Staat, mit der menschlichen Gemeinschaft sich deckende gewesen ist, finden wir in der Schilderung des Siegers und Besiegten uns selbst.“

Die Erzählung des Thermopylae-Triptychons beginnt am linken Seitenflügel. Der Hintergrund ist Frieden; Bacchus reitet auf einem Esel, ein Jüngling begleitet ihn und schwingt einen Thyrsosstab. Im Vordergrund nimmt Leonidas Abschied von seiner Frau; das Auge Gottes blickt auf ihn; Kokoschka hat es in den Schild eingemalt. Das Mittelstück zerfällt in zwei Hälften; auf der linken erkennen wir einen göttlichen Jüngling — manche haben diese Figur christlich deuten wollen —, der über dem Kampfe schwebt, diesen den Menschen überlassend. Unter ihm ein häßlicher Zwerg, der Verräter Ephialtes, der die Perser um den Paß herum in den Rücken der Griechen geführt hat. Dann, ganz links, der Seher Megistias, der den Ausgang der Schlacht voraussah, aber nicht floh. Auf der rechten Seite das Gemetzel, überflogen von einem Aasvogel, der auf seine Beute wartet Der rechte Seitenflügel zeigt den Einzug der Perser in Athen. Der Thyrsosstab ist zur Peitsche geworden. Eine weibliche Figur, die Frieden und Freiheit symbolisiert, entflieht: an ihrer rechten Hand hängt eine Kette. Sie ist so gemalt, daß sie uns, von welcher Seite wir sie auch betrachten, die Hand entgegenstreckt: wir sollen sie ergreifen. Im Hintergrund ist in zarten Farben die Seeschlacht bei Salamis, die kaum zwei Monate später den Hellenen den Sieg brachte, angedeutet.

Einer der Kommentatoren des Werkes, Dr. Werner Hofmann, hat einmal in einem Essay den Zauderer als ein Selbstbildnis Kokoschkas gedeutet, dessen schreckhafte Züge verraten, daß er das Unheil kommen sieht, der aber, vor Schrecken gelähmt, nicht zu handeln vermag. Eine Kluft trennt Handeln und Erkennen.

In der Tat ist die Situation dieser zentralen Figur die Situation Kokoschkas, die sich seit seinen Jugendjahren nicht gewandelt hat. Er hat immer das Unheil erkannt und vorausgesehen; er hat sich immer als „man within“, als Mensch mitten drinnen im mitreißenden Strom der Geschichte empfunden. Und es ist nur ein Zeichen seiner Bescheidenheit, wenn er mit dem, was er getan hat, sich nicht zufrieden gibt.

Kunst und Leben waren und sind für ihn untrennbar verbunden; neben Beckmann und Barlach ist er eine der großen kämpferischen Gestalten der mitteleuropäischen Malerei unseres Jahrhunderts; Beckmanns Ausspruch: „Ich habe gezeichnet Das schützt mich gegen Tod und Gefahr“, hat auch für ihn Gültigkeit. Er war kämpferisch nicht in dem Sinne, wie Kandinsky oder Picasso kämpferische Gestalten waren, denen es um die Durchsetzung neuer Formen, um eine Erneuerung der Malerei und ihrer Ausdrucksmittel ging. Ihm ging es immer nur um das Leben, um die Zeit, um die Menschen. Er wollte in die Zeit wirken. Er fühlte die Berufung, die Menschen wachzurütteln mit seinen Visionen.

Noch etwas anderes trennt Kokoschka von seinen großen malenden Zeitgenossen: Während ihre Kunst sich immer arf den einzelnen wandte, dem einzelnen zu einem neuen Verhältnis zum Ding, zum Gegenstande seiner Umwelt, zur Anschauung der Welt und dem, was an ihr unsichtbar ist, verhelfen wollte, also das subjektive Erlebnis suchte, wandte Kokoschka sich an die Allgemeinheit; er lebt und denkt noch in der Welt der Universalien, in Ganzheitsvorstellungen-, für ihn sind Begriffe wie „Vaterland“, „Krieg“, „Politik“, „Humanismus“ als solche erlebbar. Er malt für ine Gesamtheit der Gefahren, die sie bedrohen: Hunger, Entrechtung, Verlust der Heimat.

Er ist einer der letzten Expressionisten — mit all den brennenden Anliegen, die die Kunst der Expressionisten, beseelte — und der letzte Barockmaler, der die tragischen Konflikte der Menschheit in dramatischer Handlung darzustellen vermag. Er malt Allegorien, und er hat eine Fülle von Sinnbildern geschaffen, die die Mächte der Welt ausdrücken. „Gesichte I Das ist wie ein Licht“, schreibt er. „Tiefer aber, auf dem Hintergrunde, von dem es sich abhebt, ist die Mutterseite des Lebens. Darum habe ich den Faust so gern, wo er zu den Müttern hinabsteigt... Die Mutterseite des Lebens ist keine Idee, sie ist eine Tatsache, eine vitale Kraft.. .

Hinab zu den Müttern: Diesen Weg ist der Seher Kokoschka gegangen. Er hat in allem, was er malte, unter die Oberfläche gesehen, ob es nun ein menschliches Antlitz war oder ein Zeitalter. Er hat Visjonen gehabt, und er hat das Wesen erkannt: die Idee, wo sie noch Bild ist.

Und darum wollen wir ihn in seinem großen Triptychon nicht bloß im überlegenden, zaudernden Menschen erkennen, sondern auch in Leonidas, der bis zuletzt die Thermopylen verteidigt, und in Megistias, dem Seher.

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