Hindi am Morgen, Urdu am Nachmittag

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Eine 700 Seiten starke Anthologie macht deutlich, wie bunt die indische Literatur ist.

Ein wichtiger Mann auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar: Er stellt im Rahmen des Indien-Schwerpunkts sein neues Buch "Die Inder. Porträt einer Gesellschaft" vor. Befragt, warum er die moderne indische Literatur nicht erwähne, antwortete er in der Zeit: "Die Literatur existiert als moderne noch kaum. Moderne indische Literatur ist europäisch. Deshalb haben wir darauf verzichtet."

Keine indische Literatur?

Damit ging er noch einen Schritt weiter als Salman Rushdie. Dieser brachte 1997 einen Sammelband über 50 Jahre indisches Schreiben heraus und nahm unter den 32 Autoren nur einen auf, der nicht auf Englisch publizierte. Rushdie beherrscht längst nicht alle 24 indischen Literatursprachen. Unkenntnis hat ihn zu der Behauptung verführt, nur anglo-indische Autoren seien wichtig, oder, anders ausgedrückt: Das postkoloniale Indien könne sich nur im sprachlichen Erbe der Kolonisatoren formulieren. Der Welterfolg von Rushdies "Mitternachtskinder" (1981) schien ihm Recht zu geben, doch war der Aufschrei vieler indischer Autoren gegen Rushdies "Exportartikel", diese "Kompendien von Exotika und Erotika" heftig. Schriftsteller, die z.B. Hindi verwenden, mit 260 Millionen Sprechern die wichtigste Amtssprache Indiens, erinnern an die fünftausendjährige Tradition dieser Sprache, da sei das Englische wohl ein junger Trieb am Baum der Sprachen.

Der Kulturkampf innerhalb Indiens und der Kampf des literarischen Riesen Asiens um die Anerkennung seiner Vielstimmigkeit spiegelt sich in einer 700-Seiten-Anthologie mit dem Titel "Zwischen den Welten. Geschichten aus dem modernen Indien". 53 Autoren stellt die deutsche Journalistin Cornelia Zetzsche mit Textproben vor, Prosa und Lyrik. Der großen Bedeutung des Englischen als Lingua franca unter den Gebildeten Indiens trägt sie mit 21 Beispielen anglo-indischer Schriftsteller Rechnung. 32 Beiträge aus zehn Regionalsprachen zeigen, dass das Tor zur Welt Englisch ist, die Regionalsprachen hingegen die Nabelschnur zum Dorf und seinen Menschen.

Was sagen folgende Zahlen: fünf Prozent der Inder verstehen Englisch, bei einer Bevölkerung von einer Milliarde also 50 Millionen. Damit ist Indien weltweit die drittgrößte Nation Englisch sprechender Bürger und nach Großbritannien und den USA der drittgrößte Produzent englischsprachiger Bücher.

Zwei Drittel indisch!

Aber zwei Drittel der indischen Belletristik werden in den indischen Literatursprachen publiziert. Und da ist es doch wohl sehr wahrscheinlich, dass unter den Autoren der 70 Millionen Marathi-Sprecher, der 69 Millionen Bengali-Sprecher, der 72 Millionen Telugu-Sprecher, der 47 Millionen Urdu-Sprecher, hervorragende Schriftsteller zu finden sind, deren Unbekanntheit außerhalb Indiens schlicht daran liegt, dass es zu wenige literarische Übersetzer gibt. Wie schreibt Dilip Chitre (geb. 1938) in "Mumbai. Ein Lied": "verstreut die gedanken / wie ein gedicht / diese stadt: verstümmeltes überbleibsel von jemandes weltreich / die verbleibende / stimme jetzt bevölkert / von entfremdeten millionen."

Die Vielstimmigkeit Indiens spiegelt sich auch innerhalb des Werkes zahlreicher Autoren: nicht wenige von ihnen schreiben in ihrer Muttersprache und auf Englisch. Diese Sprachwanderer verwenden zum Teil ein "reines" Englisch, zum Teil eines mit Spuren ihrer Regionalsprachen. Die Vaterfigur der modernen Hindi-Literatur, Premchand (1880-1936) sagte von sich, er schreibe "Hindi am Morgen, Urdu am Nachmittag".

Ein Blick auf die Themen: Wenn Sudhir Kakar beklagt, dass die moderne indische Literatur "europäisch" sei, zeugt das von krassem Desinteresse. Die beiden Nationalepen Indiens, das "Ramayana" und das "Mahabarata", sind allgegenwärtig.

Aber Indien ist auch ein moderner Staat und wirtschaftlich ein Global Player. In den Worten des amerikanischen Globalisierungs-Befürworters L. Friedmann: Indien sei mit einer "sechsspurigen Superautobahn zu vergleichen, allerdings mit Schlaglöchern und Rissen im Zement, wo nur die Hälfte der Straßenlampen funktioniert. Aber in der Ferne zeichnet sich eine perfekte Superautobahn ab."

Verwurzelung, Entwurzelung

Verwurzelung und Entwurzelung sind wichtige Themen in der neuen Anthologie, deren zeitlicher Rahmen von Rabindranath Tagore (1861-1941) bis Ranjiit Hoskote (geb. 1969) reicht. Frauen, die gegen das Patriarchat aufbegehren, sind ebenso vertreten wie Autoren, die sich gegen das Kastenunwesen wenden und das Trauma der Teilung Indiens (1947) darstellen. Natürlich ist der Westen formal präsent, wie auch nicht bei der großen Mobilität junger Inder.

Der Versuch der letzten 50 Jahre, mit der postkolonialen Situation fertig zu werden, spiegelt sich in Literaturen, die weniger fremd und exotisch sind, als sich das so mancher fern der Heimat lebende indische Autor wünschen möchte, dafür reich an universalen Einsichten über Einsamkeit, Liebe, Scheitern, Angst, Tragik und Komik.

Zwischen den Welten

Geschichten aus dem modernen Indien

Hg. von Cornelia Zetzsche

Insel Verlag, Frankfurt, 2006

716 Seiten, geb., e 25,50

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