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Hinter einer Zeitungsnotiz

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Die Polizei hat ein Waffenlager unter dem Fußboden des Gymnasiums Gheorghe Sincai in Bukarest entdeckt. Man hat drei Professoren und 40 Schüler sowie den Heizer der Schule verhaftet

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Die Polizei hat ein Waffenlager unter dem Fußboden des Gymnasiums Gheorghe Sincai in Bukarest entdeckt. Man hat drei Professoren und 40 Schüler sowie den Heizer der Schule verhaftet

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Wie sehr ihn fror, spürte er erst an der Kälte des Zimmers. Im Ofen war kein Funken Glut zu sehen und kein Stück Holz auf dem rissigen Blech davor. Der Wecker zeigte halb vier. Seine Armbanduhr stand seit Mitternacht. Er wußte es genau, beließ es dabei. Genau um Mitternacht war es gewesen, daß der Soldat ihn aufgerufen hatte: Valerian Radu! Und mit: Valerian Radu. 38 Jahre alt, Fach Zeichnen, geboren in Arad, hatte dann auch das Verhör begonnen, das kurze Einzelverhör. Dann kam das andere, die Konfrontierung mit den Kindern ...

Als er die alte Schaffellweste des Vaters anzog, merkte er, daß er aus Gewohnheit dabei vor den Spiegel getreten war, dieses Fragment von einem Spiegel, das die Zimmervermieterin, weiß der Himmel wo, aufgeklaubt haben mochte. Immerhin, der Scheiben zeigte ihm seinen Kopf: den dünnen, sehnigen Hals mit dem Adamsapfel, die Bartstoppeln, das vom Sturm draußen durcheinandergeratene, zu lange Haar, die Nase, die Brillen und dahinter die entzündeten Augen. Valerian Radu, 38 Jahre alt, Fach Zeichnen — er murmelte es, beachtete aber nicht, daß er dabei den fettig-schleppenden Tonfall des Untersuchungsbeamten nachahmte. Fach Zeichnen, ja, bei den Dreizehnjährigen um 10 Uhr. bei 28 Dreizehnjährigen um genau 10.10 Uhr, nach der Pause. Um 11.15 Uhr wäre dann die erste Klasse dran gewesen. Um 11.15 Uhr aber saß er bereits in dem offenen Lastwagen, ganz vorne, immerhin windgeschützt, eingezwängt zwischen den geschorenen oder lockigen Köpfen Dreizehnjähriger, Sechzehnjähriger, Siebzehnjähriger, aus denen der Heizer der Schule herausragte und Bradescu, der Kollege Lateinprofessor, und hinter ihnen, im zweiten Wagen, sollte die andere Hälfte von drei Professoren und vierzig Schülern des Gymnasiums ..Gheorghe Sincai“ sein, in dem eine Razzia Waffen ans Tageslicht befördert hatte, Jagdgewehre, ein MG, Handgranaten, als Verschwörungsnest angeblich angelegt, durch anonyme Anzeige entdeckt.

Um halb drei Uhr früh war er entlassen worden, er, Radu Valerian, zusammen mit elf Schülern. Erst am Ausgang der Polizei-präfektur hatte er sie wiedergesehen. Er kannte sie auch alle beim Namen. Der kleinste seiner Dreizehnjährigen war darunter, den, dick in Tücher vermummt, mit einem kleinen Aufschrei, eine rundliche junge Frau in die Arme schloß, die wohl seit Mittag hier gewartet haben mochte. Die Brüder Jacobovici waren außerdem noch abgeholt worden, und ein Soldat schien auf Petrica Zamfirescu gewartet zu haben. Die acht übrigen aber standen, wie im Verhandlungsraum drinnen, auch hier geblendet von den riesigen Scheinwerfern des Hofes, ein paar Minuten verloren, ehe sie den Heimweg antraten. In dem Augenblick hatte er sie angerufen: Wartet, wir gehen miteinander, ich begleite euch, es ist so spät. So ungefähr hatte er wohl gesagt. Und dann hatte es eine Stunde gedauert, bis er sie alle abgeliefert hatte, drei in ihrem Studentenheim hinter der Piatza Amzei, die anderen bei ihren Eltern. Und das Schlimme war, daß in dieser einen Stunde, in einer ganzen Stunde, in den schlecht beleuchteten, ausgestorbenen Straßen der Hauptstadt keiner auch nur zu einem Satz den Mut aufbrachte. Er nicht, weil er auf ein Wort der Kinder wartete, und die Kinder nicht, weil — er wußte nicht, warum sie schweigsam geblieben waren.

Zweiunddreißig sind zurückgeblieben, dachte Radu Valerian, immer noch vor seinem alten Spiegel. Dann riß er das Kalenderblatt ab, warf einen Blick auf den Stundenplan. Nur noch vier Stunden. Dann war Zeichnen in der I a und I b in der sechsten, in der achten Klasse, in vier Klassen heute, Donnerstag. Ja, in vier Klassen, in denen Plätze leer bleiben würden. Bei den Maturanten sechs, nein, sieben, aber es war unsicher, vielleicht verschob sich alles, Bradescus Latein fiel doch aus und Turnen und Mathematik und Chemie. Sicher war nur eines, daß die Eltern morgen, nein, heute kommen und ihn, ihn, Radu Valerian, fragen würden, ihn, zu dem eigentlich nie Eltern kamen. Ja, sie würden kommen, unausweichlich, und sie würden ihn fragen, wie das doch alles gekommen wäre, und was schlimmer war, weil sie es nicht laut fragen würden, wieso denn er da wäre, er, ein Mann, ein Professor, der sich doch helfen konnte, und ihre Kinder nicht, .ihre Kinder, die doch sicher nicht das Mindeste wußten- von dem Waffendepot im Kohlenkeller oder irgendwo da unten in der häßlichen alten Schule, ihre Kinder, deren Betten unbenutzt geblieben waren die ganze Nacht, Kinderbetten die meisten, in denen doch geschlafen wurde, auch in dieser Zeit, denen man alles ferngehalten hatte, um die man nur geflüstert hatte ... Ja, so würden sie wohl fragen.

Als die Kälte auch durch den stinkenden Schafspelz drang, fiel ihm das Paket der Mutter ein, das Weihnachtspaket, sorgfältig verschnürt, um Wochen zu früh gekommen, die Gute, wann vertraute sie Bahn und Post für eine so weite Reise! Er nahm das Brotmesser vom Tisch für die Schnur, schob den Brief beiseite und die Tannenzweige, die wollenen Socken, als er den Flaschenhals sah. „Gegen Kälte“ stand in ihrer Schrift auf dem Einmnchglasetikett, „Gegen Kälte von deinem Onkel Niculae“. Der Schnaps brannte, brannte bis hinunter in seinen leeren Magen. Weihnachtsschnaps, um Wochen zu früh aufgemachtes Paket, was würde die Mamica dazu sagen? Ja, was würden die Mütter dazu sagen?

Ja, was würde er den Müttern sagen?

Er kämmte sich mit den graugefrorenen Fingern die Haarsträhnen zurecht. Der alte Korbstuhl krachte unter seinem Gewicht. Ich weiß ebensowenig wie sie, dachte er, raffte sich dann zu aufrechter Haltung auf. Spürte vom scharfen Schnaps mit einemmal, daß es ihm heiß zu Kopf stieg, mehr noch, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb, die brannten, weil sie die Scheinwerfer nicht ausgehalten hatten. Wir wissen alle nichts, versuchte er es halblaut, vorsichtig. Wir wissen nicht, wer die Anzeige gemacht hat. Nein, es ist auch nicht bekannt, wann die Gerichtsverhandlung ... ob eine Gerichtsverhandlung ist. Nein, es hat niemand eine Aussage gemacht, meines Wissens. Wissen Sie, ich denke, daß heute wieder ein paar entlassen werden .. . Nein, das ging nicht. — Das ging nicht. Er spürte seinen Kopf glühen, als er an die Szene dachte, an die einzige, die schreckliche in dieser Nacht, die er nicht verstand, auch jetzt nicht, die er hatte wegwischen wollen, die ihm jetzt wieder vor Augen rückte wie ein Bild, ein unauslöschliches, ein schmerzhaftes Bild, das er niemand zeigen, beschreiben konnte. Schon gar nicht den Müttern.

Was man ihn gefragt hatte, war lächerlich gewesen. Ach, und bei Bedarf fielen einem ja andere Verhöre ein, früher im Lager am Ende des Krieges und später, als sie irgendeinen Valerian suchten und in ihm gefunden zu haben glaubten, einen Kollaborateur, einen Faschisten, einen Legionär, lächerlich, er, Radu Valerian, war keins davon, nichts war er, Soldat, ganz gewöhnlicher war er gewesen, keine Rede von Offizier bei der Kurzsichtigkeit und Parteimitglied gleich 46, warum nicht! Den Halm, der sich beugt, verschont der Säbel des Türken... Von Onkel Niculae stammte das alte Sprichwort, komisch, bis hinauf nach Großwardein kannte man es also, wo es doch eigentlich in die Walachei gehörte ... Nein, er, Prof. Radu Valerian, Dr. phil. nebenbei, Universität Klausenburg, „Die Landschaft bei Mihail Eminescu“, er hätte keine Ahnung, was es für eine Bewandtnis hatte mit diesem Depot, keine Ahnung, wer und ob jemand von den Schülern etwas damit zu tun hätte. Nein, er hätte auch keinen Kontakt mit den Schülern außerhalb des Unterrichts, er hätte doch die Fresken zu machen im Stadion, der große Auftrag, endlich, in allen Zeitungen stand es, und außerdem verdiente er sich zusätzlich Geld mit Restaurierungsarbeiten, wenn es seine Zeit erlaube, ja die Malschule der Patriarchie hätte ihm das verschafft, das wäre doch wohl zulässig? Nun, der Advokatensohn Radu Valerian aus Arad, er hatte sich sehr gut verteidigt, und sein Gewissen war rein wie sein Interesse null, was Amateurpolitik betreffe. Letzteres mißfiel dem Kommissar zwar, aber der Akt Valerian Radu war in der Tat dünn und unansehnlich, nichts gegen ihn vermerkt. Die Schüler wären schon alle einzeln drangewesen, sie sollten nun, die Lehrer, die Heizer und die Studenten, gegenübergestellt werden, drüben im großen Saal.

Auf der Stirn Radu Valerians hatte sich ein Kranz winziger Schweißperlen gesammelt. Genau wie die paar Stunden vorher im großen Saal. Dem Saal, der nicht mehr ausgemalt worden war seit Jahren, in dem die fleckigen Vierecke, die drei, die zu den Bildern des Marschalls, des Königs und seiner Mutter gehörten, noch zu sehen waren, die Vierecke und das andere, diese braunen Flecken an einer Schmalseite, dieser Streifen, braun, eine Wellenlinie, eine Wellenlinie in Kopfhöhe, und der Teufel war schuld daran, daß ausgerechnet in diesen Sekunden, diesen paar Schritten neben die anderen, er, Radu Valerian, diesen Streifen erblicken mußte, der ihn an seinen Vorgänger im Gymnasium ,,Gheorghe incai“ denken ließ, den blonden schönen Dr. Elefterescu, der entlassen worden war wegen seiner faschistischen Vergangenheit und dessen Schlüssel er im Krankenhaus geholt hatte seinerzeit, die Schlüssel des Lehrmittelzimmers. Er hatte einen verbundenen Kopf gehabt, aber er hatte sprechen können. Er hatte mit seinem leisen, weichen Moldauisch dann gesagt: ,,Weißt du, immer wieder, stundenlang, das Gesicht an die Wand geschlagen, die Pistole im Genick, die Nase, das Jochbein...“

Nie würde er den Müttern das Bild beschreiben können. Er schenkte sich nach, spürte den scharfen Schnaps über die Linke rinnen, in den zerbissenen Nagelbetten brennen. In Reih' und Glied hatte man sie aufgestellt, die vierzig Schüler des Gymnasiums „Gheorghe Sincais“, sichtlich todmüde vom Stehen von 11 Uhr vormittag bis jetzt, eine Stunde nach Mitternacht. Sie blieben aber nicht in Reih und Glied, sie standen in einer Art sanften Wellenlinie nebeneinander, mitten im Saal, in genau der gleichen Wellenlinie, die die blutenden Gesichter der größeren oder kleineren Häftlinge hinter ihnen, rückwärts an der Schmalseite des Raumes gezogen hatten. Aber das war es ja gar nicht. Das faszinierte ihn nur, ließ ihn unaufmerksam bleiben beim Verlesen der Namen. Ließ ihn Mihai Bradescus zitternden Lateinerschnurrbart gar nicht registrieren oder die wulstigen Falten auf der Stirn des Heizers, auch nicht, daß Kazan sein Holzbein nachzog wie immer, wenn ihn der Beinstumpf schmerzte.

Ja, und dann war es so weit gewesen. Der Polizeipräfekt war selbst aus einer unsichtbaren Tür in den Saal getreten, ein älterer, magerer, schreiender Herr, den draußen niemand je zu Gesicht bekam. Er hatte sich sofort ein paar Meter vor den Schülern in Positur gestellt. Verdacht auf Putschpläne, hatte er gebrüllt, irgend etwas Unsinniges, und mit der Hand auf den Tisch gewiesen, auf dem alles ausgebreitet lag, das MG, die Handgranaten, die Jagdflinten. Und dann war er rechts, ganz nahe an den ersten Schüler herangetreten, einen kleinen, Gicu Sasu, ja, Gicu Sasu, der keine gerade Linie ziehen konnte, immer nur Wellenlinien, Wellenlinien. Der kleine Gicu Sasu hatte eine Pause im Wortschwall abgewartet und gesagt: „Schuldig, Herr Präfekt!“ Da war ihm der Schweiß • bis in die Mundwinkel geronnen, denn was dann kam, war grotesk, lächerlich, schrecklich, niemals zum Wiedergeben: „Schuldig, Herr Präfekt!“ hatte der Nächste gerufen, dieser Idiot, ein Maturant, ein baumlanger Kerl, ein Musterschüler, Beamtensohn, und „Schuldig, Herr Präfekt!“ hatte einer nach dem anderen gerufen, als gälte es abzuzählen im Kasernen-hof, auf dem Sportplatz, und „schuldig, Herr Präfekt!“ hatte der Zitterbart Bradescu gesagt, in strammer Haltung, und Kazans Holzbein stieß dazu nervös auf den Boden. Schuldig, schuldig, in Wellen, hohe Stimmen, tiefe, leise, brüchige, trotzige, zweiundvierzigmal schuldig, nur einmal nichtschuldig. Herr Präfekt!, weil er, Radu Valerian, ja auf der anderen Seite, vor Gicu Sasu, stand.

Sein Zimmer schwamm in einem roten Nebel, in dem es nur einen weißen Fleck gab, ein weißes Band, auf dem die Köpfe der Kinder wie aufgefädelt waren. Gicu Sasus Kopf, sein blasses Kindergesicht, vierzig blasse Kindergesichter unter geschorenem Haar — die Kleinen trugen es meistens so -. unter kurzgeschnittenen Locken oder Bürsten, vierzig weiße Kindergesichter.

Der Zeichenlehrer Dr. Radu Valerian stand schwer von seinem ächzenden Korbstuhl auf. Lim acht Uhr ist Zeichnen, wie immer, Stunde, ich muß schlafen, ich muß ein wenig schlafen, die Mütter kommen, die Mütter werden sicher kommen, fragen kommen. .. Und es ist Donnerstag. Er wollte weitermachen in der Biserica Domitza Balasa, die ganze Ikonenwand vor zu erneuern. Die Ikonenwand mit ihren Engeln. .. Das Schnapsglas zerbarst auf dem Boden, er wollte die Scherben sammeln, ließ es, als das Blut von seinem Handballen floß, obwohl er nichts spürte. Was er spürte, war etwas anderes, das in zwei dumpfen Gedankengängen irgendwo pochte. Vierzig Kindergesichter, blasse, dachte er, ja dort, verborgen hinter Schichten von Kerzenruß und Staub und Alter, dort auf dem Ikonostas der Domnitza Balasa hatte er sie doch schon früher gesehen, die Engel, sie hatten das gleiche Merkmal, das.- was ihn außer diesem gräßlichen, idiotischen „Schuldig, Herr Präfekt!“ nicht losließ: dieses Einander-Aehnlichsein als wäre es immer das gleiche, ein einzige: Gesicht.

Als er das Fenster öffnete, die eisige Winterluft einsog und sah, daß nirgends auch nur ein Schimmer des nahenden Morgens zu ahnen war, verging mit den Bildern auch die Anspannung, das Schreckliche des vergangenen Tages. Er merkte nicht, daß er den Versuch zu einem Lächeln machte. Er hielt die Brille in der Hand und die Augen geschlossen. Eine Minute lang, zwei, länger. Im Hof bellte ein Hund, drüben in St. Josef, der katholischen Kirche, läutete die Glocke. Bevor er sich, angezogen wie er war. auf das Bett warf, mußte er die Rollen seiner Entwürfe der Stadionfresken beiseite schieben. Und betrunken, höhnisch, schmerzlich, halb schon im Schlaf stöhnend, hörte er sich sagen: „Die Gesichter meiner Athleten, meiner Pioniere ... ihre Gesichter, ihr Gesicht, damit es bleibt...“

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