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Historische und aktuelle Alpträume

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Es gebe kein Land, in dem so schlecht geträumt wird wie in Israel, stellt der alte Genosse Schraga fest, als er auf den Balkon seines Hauses tritt. Die Alpträume entspringen den Ängsten, die die Geburt des Staates gefördert und begleitet haben, der industriellen Massenvernich-tung und kriegerischen Bedrohung. Im Lauf der Zeit sind neue dazugekommen. Und die Hauptperson der ersten Erzählung von Arnos Oz, der Vortragende Schraga, ein altgewordener Redner, der wöchentlich zu den Kibbuzim aufbricht, um über den russischen Antisemitismus und die Gefahr der Bolschewiken zu sprechen, hat längst einen Sohn, oder besser einen Nachfahren im Geiste.

Die Ängste sind ausgewachsen: Die Erzählung „Späte Liebe" erschien bereits 1971 und der Intellektuelle Fima, die Hauptperson eines von Arnos Oz letzten Romanen „Der dritte Zustand" (1991), ähnelt Schraga. Beide sind vereinsamt, allein, beide besessen von ihrem Vorhaben, die Ereignisse im Land und in der Welt zu erfassen und nichts zu verpassen, sei es nun mit Hilfe von Zeitungen oder durch Hören von Nachrichtensendungen. Beide sprechen mehr mit sich als mit Mitmenschen, auch Schraga hält in seinen Vorträgen letztlich nur Monologe, und beide sind von den verschiedensten Ängsten

geplagt. Während es bei Schraga noch die russische Gefahr ist, die Vernichtung der Juden in der Sowjetunion, so sind die Ängste im „dritten Zustand" erwachsen geworden und der gelegentliche Leitartikler Fima beruft im Geiste Kabinettsitzungen ein und erörtert ständig nur ein Problem, den

Verfall der Gesellschaft, der seine Ursache in den besetzten Gebieten hat.

Beide sind hilflos verstrickt in ihre Problemen, und gerade in ihrer Vereinzelung werden die Dramatik und die Tragik des politischen Problems deutlich. Für beide bedeutet letztlich nur noch der Tod einen Ausweg aus ihrem Geisteslabyrinth - der einzige

Zustand, dem sie sich bereits gedanklich angenähert, aber den sie noch nicht erlebt haben. Diesen Prozeß stellt der israelische Autor mit einer unvergleichlichen sprachlichen Brillanz und dabei Nüchternheit dar.

Die zweite Geschichte in seinem Band spielt Jahrhunderte vorher, zur Zeit des ersten Kreuzzuges, und auf einem solchen läßt uns Oz anno 1096 im Gefolge von Graf Guillaume aufbrechen. Von Ängsten werden auch sie getrieben, und Claude, der Chronist mit der schiefen Schulter, weiß, „daß der Fluch Gottes zuweilen kommt wie eine Liebkosung im Fleisch. Aussehen und Berühungsweise der Dinge sind nicht eins mit ihrer Seele. Wie hat doch Gottes Fluch diesen Stamm veredelt. Zart und bloß sind seine Menschen, unsere eigene Sprache wandelt sich in ihren Mündern zu Wein."

Damit wäre der Zug fast am Ende seiner Reise. Aufgebrochen sind sie nach Jerusalem, aber Juden treffen sie bereits lange vorher, und diese töten sie, meist ohne Haß und nicht ohne ein paar Tränen, die im nachhinein vergossen werden. Zuerst ist der jüdische Händler mit den Ziegen dran, und immer wieder ist da die Suche nach dem Verräter, dem Juden im eigenen Heer: „Jagdlust belebt die Sinne".

Die Kreuzritter ziehen durch entlegene Landstriche und jäten gewissermaßen die Ackerränder, „die Juden

eines vergessenen Dorfes, einer Herberge am Wege oder einer Mühle im versteckten Tal." Sie weichen nicht ab vom Weg, verfolgen keine Flüchtenden, „sondern pflügen nur eine lange, gerade, nicht besonders breite Furche". Ohne daß dies vom Autor unmittellbar beabsichtigt scheint, nimmt das Heer Züge deutscher Einsatzkommandos an.

Daß der Autor die handelnden Personen nicht zu Abziehbildern scheußlicher Fratzen werden läßt und ihre unvorstellbaren Handlungen als das natürlichste der Welt zeigt, gibt dem historischen Ausflug den beängstigenden Charakter. In der Schlußapotheose, nachdem die Mannschaft von Graf Guillaume, vom Winter überrascht, in einem Kloster mehr oder weniger verendete und nur neun schwankende Gestalten übrig sind, die auf ein Nirgendwo im Schnee zu stapfen, bleibt die Frage offen, ob Oz eine philosophische Versöhnung anstrebt oder die Ironie auf die Spitze treibt. Denn sie zogen ins „Herz des Glockenklangs und weiter zum Engelsgesang, ... ließen ihr verhaßtes Fleisch zurück und strömten hinein, ein weißer Strom auf weißer Fläche, abstrakte Absicht, verwehender Dunst, vielleicht Frieden."

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