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Hoffnung im Wechsel der Jahre

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Jahresende, Jahresanfang. In unserer Zeit wird diese Wende von vielen Menschen durch eine Flucht in den Wirbel der Vergnügungsindustrie begangen. Die „Filmpaläste“, die Mitternachtslokale sind überfüllt; nicht wenige fliehen in andere Orte, Städte, Landschaften, um dem Druck der Arbeit und Anstrengung zu entfliehen: den Mühen des alten Jahres. Und begonnen wird das neue Jahr mit neuen Mühen und Wirren, die sich die Menschen bereiten.

Jahreswechsel: das bedeutet Hochkonjunktur für die Industrie der Hoffnung und des Schrek-kens. In Europa, in anderen Kontinenten eilen Millionen von Menschen zum Wahrsager, zur Wahrsagerin. Im Flugzeug, im Wagen steuern sie berühmten Wahrsagern zu, pilgern zu ihnen nach Rom, nach Paris, nach London. Wallfahrten unserer Zeit! Diese Filgerschaft können sich natürlich nur einige Tausende, Zehntausend* leisten, die das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden; eine Fahrt an die Riviera, verbunden mit der Konsultation einer berühmten Wahrsagerin in Paris, kann die angenehmsten Empfindungen ergeben: die Preise für Stahl, für Nickel und Zinn, für Baumwolle werden also steigen. Getreide liegt schwächer. Ein großer Mann wird sterben. Auf Unruhe im fernen Osten folgt Ruhe im nahen Westen. Vorsicht um die österliche Zeit! Erdbeben im Pazifik, Ueberschwemmungen in China, ein Brand in Persien. Hat sie es nicht gesagt?

Sorgenvoll, erwartungsvoll beugen sich Millionen Zeitungsleser über die Prognosen, die hundert Blätter ihnen ins Haus tragen, und prüfen die Horoskope, die ihnen persönlich gestellt sind.

Zu diesen kleinen Rechnern, die mit uns — sie sind ja unsere Lebensgefährten in jedem Amt und Betrieb, in jeder Bahn und Straßenbahn, heute schon fast in jedem Haushalt, zumindest in jedem größeren Haus — über der Bilanz des kommenden Jahres sitzen, gesellen sich nun größere Rechner. Sie kalkulieren die Absatzmöglichkeiten der Großkonzerne und kleinerer Firmen in diesem und jenem Lande. Das sind ernste Rechnungen, Berechnungen. Von ihnen kann das Schicksal von Tausenden, von Hunderttausenden von Arbeitern abhängen. Eine Fehlkonstruktion, eine Fehlspekulation kann einen Betrieb ruinieren wie jenen der einzigen deutschen Vespa-Werke; Millionenverdienst vor wenigen Jahren, jetzt, zur Weihnacht 1954, standen alle Räder still. Selbst der Telephonanschluß zum Werk ist abgebrochen.

Noch größere Rechnungen werden in kleineren Häusern betrieben. Das sind jene kleinen Häuser, die nichts als eine riesige Elektronenrechenmaschine enthalten. Schneller als der Wind — dem sie oft zuvorkommen muß, da sie auch den Warndienst von Hurrikanen bedient — rechnet so ein Ungetüm aus, was geschieht, wenn in den Ländern A, B, C die Grundstoffindustrien ausfallen, wenn im Kontinent D die Erdölproduktion für 14 Tage lahmgelegt ist, enn 400 Schiffe und 12 Häfen im Lande E Uäfallen. Alles natürlich am Tage X. Und alles fein -säuberlich berechnet nach Tonne und Tonnage, aummeterjSushel, Inch; wobei gleich die Ersatznfiglichkeiten, die benötigten Flugzeuge, Schiffe, Menschen, Maschinen, Waffen durchgerechnet werden, die zur Wiederherstellung der vollen Produktion benötigt werden. Seltsam: die Maschinen, diese hochempfindlichen Maschinen zeigen nicht selten Ermüdungserscheinungen. Die Techniker selbst nennen es so: „eine Ermüdung“. Irgendwo ist ein Bündel hauchdünner, fast unsichtbarer Metallfäden durchgebrannt, zeigt eine Elektronenröhre Fehler, ist ein zauberhaft durchstrahlendes Netzgitter versehrt worden.

Nur die Menschen zeigen, scheinbar, keine Ermüdungserscheinungen.

Ueberau auf dieser einen Erde sitzen sie und berechnen das kommende Jahr. Rechnen weit mehr vor, voraus, als zurück: was wird diese und jene Produktion tragen? Wie wird dieses und jenes Land sich-politisch entwickeln? Was wird, es, an, Lust Arid Unlust für mich ergeben?

Unterdessen wölbt sich, wie Jahrtausende zuvor, über uns bei Nacht ein sternklarer Himmel, blaut bei Tag i ein! seidiger Himmel über der Erde, die dem Frühling zureift. Die starken Knospen der Roßkastanien im f Stadtpark, die rotgrünen Triebe der jungen Weiden am Dorfweiher weisen es schon. Wieder wird ein Frühling werden. Ueber dieser weiten Erde.

Jahreswende 1954/55! Wer über das flache Land geht im Niederösterreichischen, wer über die Hügel wandert im Salzburgischen, wer im Schweigen des Pitztales am Berghäng steht, wird nur eines gewahr: in großer Geduld wartet das Land. Wartet dem Frühling , entgegen, dem Wechsel des Sommers und des Herbstes, von dem noch:überall viel dunkles Laub spricht.

Geduld, Gelassenheit. Wir'sollten von unserem Lande lernen.- (Alle. Länder und Erdreiche sprechen diese selbe Sprache, auf der einen Erde.)

Wichtig ist nicht die Rechnung. Schon gar nicht die Vorrechnung. Wichtiger wäre schon das Rechnen zurück: was haben wir einander getan? Dieses Rechnen zurück entbindet aus sich einen großen Dank. Das österreichische Volk durfte eine wirtschaftliche Konjunktur erleben. Die Verkäufe zur Weihnachtszeit beweisen die gestiegene Kaufkraft • breitester Schichten. Unser Volk durfte leidlich zufrieden sein mit seiner Regierung, mit der Arbeit der politischen Vertreter: mit der Zusammenarbeit vieler Gegner. Grund zum Dank. Das Jahresende brachte noch eine frohe Ueberraschung, die zu dieser Stunde kaum mehr erwartet, gewiß nicht errechnet wurde: das westdeutsche Kabinett beschloß in der letzten Sitzung des Jahres ein Gesetz, das den „Anschluß“ rechtlich annulliert und das den Oesterreichern in Westdeutschland die österreichische Staatsbürgerschaft zuerkennt, die sich für Oesterreich entscheiden. Grund noch mehr, zu danken. Gerade für unsere Zeitschrift, die, vielbefehdet, seit einem Jahr oft allein in Oesterreich, für Oesterreich, um eine Klärung der reichlich undurchsichtigen staatsrechtlichen Verhältnisse zwischen Deutschland und Oesterreich gekämpft hat.

Wir durften in Frieden leben. Uns hier, in Europa, und manchen Ländern in anderen Kontinenten wurde der Friede gegeben. Ein fragwürdiger Friede. Fragwürdig wie jeder Friede der Menschen auf Erden. Fragwürdig auch oft in seinen augenblicklichen Ergebnissen: nicht nur in Indochina, sondern auch in unserer nächsten Nähe: im Abschluß um Triest. Viele Fragwürdigkeiten könnten hier anschließend aufgezählt werden: ungelöste Fragen und Schwierigkeiten in der Innenpolitik, in der Außenpolitik. Das Ringen der Weltmächte überschattet nach wie vor gerade unser Land. Unser Staatsvertrag ...?

Die Reise des österreichischen Bundeskanzlers nach Amerika hat ein Tor geöffnet. Das Verständnis für die eigene Stellung, für die Eigenart Oesterreichs in der freien Welt ist im Wachsen begriffen. Grund zum Dank.

Grund zur Hoffnung. Zur Hoffnung im Wechsel der Jahre.

Wir Menschen bereiten uns das größte Unglück, stürzen uns immer wieder in die bittersten Kalamitäten, weil wir, nicht nur, aber gerade auch bei Jahresanfang alles berechnen, alles erlangen, alles haben wollen. So oder so „muß“ es gehen. Das aber ist die Alternative des Teufels, und jener „schrecklichen Vereinfacher“, die Jakob Burckhardt im 20. Jahrhundert heraufsteigen sah, als Manager des Schreckens. Diese geängsteten Männer können es nie erwarten. Daß „Ordnung gemacht“ wird. Immer wieder versuchen sie, „die rechte Ordnung herzustellen“; und deshalb, natürlich, möglichst viel „Menschenmaterial“ für die Durchführung dieser Rechenpläne und Ordnungen zu verpflichten. Das kleine Geheimnis dieser fürchterlichen Systemschmiede, die auch heute wieder die Völker und Kontinente für ihre X-Jahres-pläne und für ihre Vorbereitungen zum Tage X verpflichten wollen, ist ihre Ungeduld. Sie können es nicht erwarten, können den Frieden nicht auf sich zukommen lassen, wie der Berg den Schnee empfängt, wie der Bach die schmelzende Flut, wie der Baum das köstliche Naß. Das große, sorgsam verhehlte Geheimnis dieser Männer der Angst und der Angstmacherei aber ist ihr Unglaube. Sie können, gerade weil sie es oft angestrengt aus eigener Kraft versuchen, nicht an Gott glauben (wohl aber glauben sie an einen Gott, den sie sich selbst gemacht haben und der nichts anderes ist als eine Einkleidung ihrer Pläne, Aengste und Rechnungen). Im Grunde. ihres Herzens fürchten sie: Gott ist zu schwach. Er wird es allein doch nicht schaffen. Das sieht man doch offensichtlich am wüsten Zustand dieser Welt, der ihnen noch wüster erscheint, als er ist, weil sie selbst nur eines erleben: die wüste Leere ihres verbrauchten Herzens.

Oesterreich, reich begnadet durch Gott und Geschichte (wann werden wir es ganz erlernen, die harten Gnaden unserer geschichtlichen Existenz zwischen Ost und West, Nord und Süd, zwischen Slawen, Deutschen und Romanen, liebend anzunehmen?), besitzt im Grunde seines Wesens einen Schatz, der wichtiger ist selbst als unser Erdöl und unsere Wasserkräfte (was nicht bedeuten darf, daß wir auf diese Schätze verzichten dürfen). Dieser Schatz ist die Geduld. Die Gelassenheit.

Wichtiger als die Rechnung, als das Vorrechnen und auch als das Nachrechnen, ist das Sein. Ist das Leben. Unser Leben mit den vielen anderen Menschen, in und um unser Land, die ganz anders sind als wir. Leben wächst nur in Geduld. Die Mutter muß neun Monate ihr Kind austragen. Ein Mann muß sein Werk oft viele Jahre austragen, nicht nur ein Künstler, bis es reif ist, und das Licht der Welt erblickt. Völker müssen sich und ihre Partner und Anrainer Jahrhunderte austragen, bis aus einer Feindschaft eine Partnerschaft von Gegnern, und, noch später, vielleicht eine Freundschaft wird. Lernen wir deshalb vom Wechsel der Jahre: nur in ihm kann die Hoffnung wachsen. Wer von einem Jahr alles fordert, wird leicht alles verlieren. Wer von einem kommenden Jahr das Schlimmste befürchtet, wird es leicht sich selbst bereiten, weil er unbewußt den Kompaß seines Schiffes unheilen Sternen zupeilt.

Lernen wir vom Lande, lernen wir von unserem Geschicke im Wechsel der Jahre. Lernen wir es, standzuhalten, Freund und Feind gegenüber, beiden gelassen begegnend. Lernen wir es, uns noch mehr zu finden, in Oesterreich.

1945 gaben große Kenner der Welt keinen Groschen für das kleine Oesterreich.

1954 wollten große Herren wenig geben für die Unabhängigkeit dieses kleinen Landes, dessen guten Sinn auch für sie selbst sie nicht ersahen.

In diesen Jahren ist der schmale Stamm, der Baum unseres Staates, gewachsen und hat reiche Knospen und auch Früchte angesetzt. Im Wechsel der Jahre. In der Gunst und der Ungunst der Verhältnisse. Es bedürfte einer höheren Mathematik, als sie uns kleinen Jahresrechnern zur Verfügung steht, um zu berechnen, wieviel Wohlstand und innere Konsolidierung wir der Ungunst verdanken, die unser Land mit mehr als vierfacher Bedrängnis überlastet.

Danken wir also, im Wechsel der Jahre, dem alten Jahr. Geben wir dem neuen Jahr die gute Chance: indem wir uns voll und ganz selbst hineingeben, mit wachsendem Vertrauen uns im Inneren begegnen und mit wachsender Wachheit und Aufmerksamkeit den Menschen und Mächten entgegentreten, die ihr Interesse an Oesterreich bezeugen. Wagen wir es, gute Dinge zu tun im Wechsel dieser Jahre. Dann werden wir die Schwelle aus dieser Zwischenkriegszeit überschreiten, mit ihren angstvollen und unguten Rechnungen zu Jahresende, und werden in eine Zeit des Friedens hineinschreiten, uns hineinarbeiten dürfen. Des Friedens sehr verschiedener Menschen, die in ihrem unabdingbaren Anderssein, im Steigen und Fallen, im Wechsel der Jahre zu behüten sind. h.

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