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Hollands „gute Erde“

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ALS UNS DER FREUNDLICHE BESITZER des kleinen Hotels, in dem wir geschlafen hatten und nun das reichhaltige Frühstück einnahmen, erklärte, daß wir uns etwa sechs Meter unter dem Meeresspiegel befinden, blieb mir zunächst das Stück Weißbrot mit Roastbeef im Munde stecken. Wer bisher so gut wie möglich über dem Meeresspiegel gefrühstückt hat, erlebt bei solch einer Ankündigung einen denkwürdigen Augenblick. Es war unser erstes „depressives“ Frühstück. Und wir waren gar nicht deshalb nach Holland gekommen. Grund unseres Besuches war das holländische Erdöl, das bei Schoonebeck im Gebiet von Emmen an der holländisch-deutschen Grenze gefunden wird; im — wie es gar nicht anders sein kann — saubersten (Deifeld der Welt. Grund unseres Besuches war weiter das Erdölforschungslaboratorium der Königlich-Holländischen Shell in Amsterdam und die größte Raffinerie Europas in Pernis bei Rotterdam mit einer Jahreskapazität von etwa 15 Millionen Tonnen. Unser biederer Wirt hatte uns mit dem kurzen Hinweis jedoch in Erinnerung gebracht, daß etwa ein Drittel der Niederlande unter dem Meeresspiegel liegt. Sein nächster Satz, und wir sollten ihn noch oft in Holland hören, wies auf die große Bevölkerungsdichte hin. Kurz ausgedrückt, bedeutet das, daß auf etwa zwei Fünftel des Flächeninhaltes Oesterreichs elf Millionen Einwohner leben.

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DER DRITTE SATZ des Zigarren (und was für Zigarren!) rauchenden Wirtes war eine Frage: „Haben Sie schon die Polder und den Abschlußdamm gesehen?“

Wir verneinten sie, versprachen ihm aber, dies nachzuholen. Unsere holländischen Gastgeber ermöglichten es dann, dieses Versprechen zu halten. Von Amsterdam fuhren wir auf Straßen, die aussahen, wie unsere aussehen, wenn gerade Verkehrserziehung für Schüler stattfindet, südlich des IJsselmeeres, der vormaligen Zuider-zee, nach Harderwijk und von dort auf den Damm“ deg|ürigstgn fertigan PoldersjjtJich-Flevoland“. Er trägt den Kern der zukünftigen Hauptstadt der neuen Provinz, die sich die Holländer aus der Zuiderzee geholt haben und noch holen wollen: Lelystad. Benannt nach dem Schöpfer des Zuidersee-Projektes, Dr.-Ing. C. Lely.

Was wir antrafen, war freilich nichts anderes als eine improvisierte Siedlung auf einem etwas verbreiterten Damm. Ein paar niedrige Ziegelhäuser, Holzbaracken, Wohnwagen, wie sie Baufirmen an ihren Bauplätzen aufstellen, zwei, drei Wohnschiffe, ein gegenüber dem sonstigen Komfort lächerlich bescheidenes Bankgebäude, eine Kantine und ein Museum. Es war in einer größeren Holzbaracke untergebracht, mit einer noch unübersichtlichen Sammlung von Dingen, die man bei der Trockenlegung gefunden hatte. Jahrtausendealte Tierknochen, etwas jüngere Krüge und Töpfe, Schiffsreste, Anker und einzelne Schuhe spanischer oder portugiesischer Herkunft. Daneben Münzen, Kacheln, Handwerkszeug und Haus- oder besser Schiffsrat, irgenwann einmal im Salzwasser der Zuiderzee versunken. Als wir das Museum verließen, gab es einen typischen niederländischen Himmel, der unschwer im Kunsthistorischen Museum in Wien wiederzufinden ist. Nur den Wind gibt es da nicht, und die Luft, die nach Wasser schmeckt, nach dem Wasser der ehemaligen Zuiderzee, das bereits süß sein soll. Wir kosteten es. und es war süß. Ich glaube, unser holländischer Begleiter freute sich darüber, als wir ihm dies bestätigten.

AUF DER RÜCKFAHRT haben wir zur Rechten das IJsselmeer (Binnenseen heißen im Holländischen Meer, dafür heißt das Meer Zee), zur Linken liegt das neugewonnene Land, das trockengepumpt wird. Grüne Stellen wechseln mit flachen Wasserlachen, in denen tausende Tauchenten beheimatet sind. Mit langgestreckten Hälsen ziehen sie über uns hin, schwarze Formationen vor dem gelben Abendhimmel bildend. Draußen, weit von unserem Damm, ziehen Fischerboote dahin. Nicht mehr lange. Sie befinden sich auf dem Gebiet vom zukünftigen südlichen Flevoland, das mit dem östlichen eine Einheit und mit dem Nordostpolder, dem Polder Markerwald und dem Wieringermeer-Polder Hollands zwölfte Provinz, Flevoland, bilden soll. Sie wird etwa 2250 Quadratkilometer groß sein, so groß also wie etwa unser Bundesland Vorarlberg. Und da, wo sich heute noch die Tauchenten tummeln, wird es in etwa fünf Jahren die ersten Ernten geben. Schon jetzt sind die Pläne für die Besiedlung fertig, die Züge der Straßen und Kanäle bestimmt, die Größe der Dörfer und Städtchen, die Anzahl der Schulen und Kirchen, die Zusammensetzung der Gewerbetreibenden und Geschäftsleute, die Spitäler und Aerzte.

AM NÄCHSTEN TAG suchen wir den Nordostpolder mit seiner Hauptstadt Emmelord auf. Land, das der Mensch geschaffen hat, Wälder, die geplant sind, und'doch nicht wie Forste wirken, Häuser mit Busch- und Baumgruppen, Gehöfte hinter Hecken, Straßen, die keinen Wunsch übriglassen, Fahrradwege und eine Kleinstadt mit Straßenzügen von großstädtischer Breite. Man ißt, geht ins Kino, kauft ein und hält Markt unter dem Meeresspiegel. — Fischerdörfer und kleine Hafenstädte an der ehemaligen Zuider-zeeküste haben ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Dafür tauchten neue Städte aus dem Meer, das der Partner jedes Holländers ist.

Am Nachmittag fahren wir über den Afsluit-dijk, den Abschlußdamm von 32 Kilometer Länge und 90 Meter Breite. Jenem Damm, der aus der Zuiderzee endgültig das IJsselmeer gemacht hat, den Süßwasserbinnensee, der ein wichtiges Süßwasserreservoir für Holland ist. Unser Begleiter entschuldigt sich für die Windstärke zehn bis elf, die den Wagen immer wieder zur Seite drückt und mit Salzwasser übersprüht. Und doch, bei Windstille wäre uns kaum das Ausmaß dieser Arbeit so zum Bewußtsein gekommen wie bei diesem Sturm. Unsere Welt ist arm an Wundern, der Damm ist eines. Dort, wo man den Damm am 28. Mai 1932 im Beisein der Königin geschlossen hat, erhebt sich ein schlichtes Monument. Ein Gedenkstein mit den Worten: „Hier wurde der Deich geschlossen.“ Dazu das Datum. Nicht mehr. Die lapidare Kürze des Satzes ist so imponierend wie die Länge und die Ausmaße des Dammes. Anderswo stehen die Worte in keinem Verhältnis zur Tat.

Im Wieringermeer-Polder endlich haben wir gar nicht mehr das Gefühl, unter dem Meeres-

Spiegel zu sein. Nur ein in einem grünen Feld verirrtes Schiff erinnert uns wieder daran, daß die Kanäle etwas höher als die Felder liegen und daß Tag und Nacht die Pumpen laufen müssen, nicht nur hier, sondern in vielen Gegenden Hollands, um das Land trocken zu halten.

WÄHREND DAS IJSSELMEERPROJEKT NOCH NICHT VOLLENDET IST, wird jedoch bereits am nächsten großen Projekt, am sogenannten Deltaplan, gearbeitet. Wurde durch den 32 Kilometer langen Abschlußdamm der Zuiderzee die holländische Küste um 300 Kilometer verkürzt, so wird sie durch das neue Delta-prjeki um weitere 700 Kilometer verkürzt werden.“ Was das für den Holländer bedeutet, kann man nur ermessen, wenn man an die Katastrophe von 1953 zurückdenkt. Im Deltameer, im südlichen Landesteil also, im Mündungsgebiet der großen Flüsse Lek, Waal und Maas geht es nicht darum, neues Land zu gewinnen. Hier geht es in primärer Hinsicht um die Sicherheit der holländischen Bevölkerung und darum, ein neues großes Süßwasserreservoir im Süden des Landes anzulegen. Durch eingebaute Schleusenstufen wird man dann sogar durch den Niederrhein zum Meer fließendes Wasser über die Ussel in das IJsselmeer umdirigieren und das nördliche Süßwasserreservoir auf dem gewünschten Niveau halten können.

Dämme und Schleusen werden die Inseln im Deltameer verbinden, ein Eindringen des Salzwassers weit in das Binnenland verhindern und außerdem ein herrliches Erholungsgebiet schaffen. Schon haben die Holländer im Haringvliet eine künstliche Insel dem Wasser entrissen und einen Hafen angelegt. Es ist imponierend, wie sie Land an die Oberfläche zaubern. Ein Netz der herrlichen holländischen Straßen wird dereinst über die Dämme führen und die bisher abgeschnittenen Inseln mit dem Festland verbinden. Im Jahre 1978 soll dieses Projekt vollendet sein.

UND IN ROTTERDAM baut man bereits am Europahafen, dem Europort. Schon heute ist dieser Hafen der größte Europas, nachdem er vor kurzem London überflügelt hat. Und schon schicken die New-Yorker, die sich noch rühmen können, den größten Hafen der Welt zu besitzen, besorgte Kommissionen nach Holland. Wahrscheinlich wird Rotterdam auch New York überflügeln. Der Europort wird Schiffe bis 100.000 Tonnen aufnehmen können. Unbestreitbar wird Rotterdam die erste und modernste Hafenstadt Europas bleiben. Dafür spricht der Fleiß der Holländer, der dennoch nie penetrant oder aggressiv wirkt, dafür bürgt die Zähigkeit dieses kleinen Volkes auf engem Land, das die größten Schleusen der Welt bei IJmuiden gebaut hat und sicherlich auch die meisten Pumpen der Welt besitzt.

„ER HAT EIN ÄPFELCHEN FÜR DEN DURST“, lautet ein holländisches Sprichwort, und es will besagen, daß jener, der dieses Aepfel-chen besitzt, gut vorgesorgt hat und abgesichert ist nach allen Seiten hin. Mögen die Holländer immer ein Aepfelchen für den Durst haben.

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