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Hürtgenwald

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Dies ist ebensosehr eine europäische, wie es eine deutsche Landschaft ist. Im Osten vorübergeht der Rhein, in die sich öffnende Tiefebene hinaus, hier hat er schon, mit Hölderlin zu reden, sein „wohlbeschiedenes Schicksal / Wo noch der Wanderungen / Und üß der Leiden Erinnerung / Aufrauscht am sichern Gestade / Daß da und dorthin gern / Er sehn mag bis an die Grenzen / Die bei der Geburt ihm Gott / Zum Aufenthalte gezeichnet”. Indem diese Verse mir durch den Sinn gehen, rührt mich wieder das alte Staunen, wie doch Hölderlins Auge unser Abendland wunderbar in ein Ganzes zusammenzuschauen vermochte: Rhein und Alpengebirg und ägäische Inselwelt und die schöne Garonne und die Donau, die dem geheimnisvollen Asien, dem mit tausend Gipfeln duftenden, im goldnen Rauche blühenden, entgegenzieht. Hölderlin war ein Deutscher, niemand konnte es inniger und entschiedener sein, und doch lag unser Erdteil vor ihm als eine ungeteilte, von keinen schmerzlichen Grenzen zerrissene, sich selber nicht entfremdete Welt!

Unsere Straße steigt allmählich gegen das Hohe Venn hinauf. Hier ist eine letzte Erhebung des europäischen Mittelgebirges, von hier nach Norden hin breitet sich die große Fläche, welche die erdkundlichen Karten grün bezeichnen, durchschnitten nur von den länderverbindenden großen Strömen, e i n Land bis nach Hamburg und Kiel und bis nach Rotterdam und Calais und Abbeville hinüber, überweht vom Atem des einen Meeres, der hier trotz der frühen Jahreszeit schon laulich weht, so daß wir den Eindruck haben, in den Bereich des Golfstroms geraten zu sein.

Golfstrom — das ist Übersee und weite Welt, das ist eine Milde, die unsere offenen Küsten erwärmt. Wie gern würde man verweilen bei solchen Gedanken, wie gern vergessen, daß Grenzpfähle und Zorn und Verkennung die Völker in diesen Landstrichen noch immer trennen.

Aber unser Weg selbst ist es, der uns zu der Wirklichkeit der Dinge zurückbringt. Denn hier diese Hügclungen, die sich seit unserem Aufbruch am frühen Morgen immer dichter mit Nebel umzogen haben, sind mit Dörfern besetzt, und über sie ist im letzten Herbst des Krieges die Schlacht gegangen, eine der schwersten, zähflüssigsten Schlachten, die überhaupt in seinem Verlauf geschlagen wurden. Hier hatten sich die deutschen Truppen an den Boden geklammert und ihn der amerikanischen Übermacht nur Meter um Meter kämpfend preisgegeben; es war ihnen darum gegangen, dem Gegner den Zutritt in die Rheinebene zu wehren. Hier sind Ortschaften verteidigt worden, von Haus zu Haus, schon Verlorenes im Gegenangriff wiedergenommen und abermals aufgegeben worden. Und die Gehöfte: wie sie da zertrümmert liegen, erinnern sie an verendete Tiere, deren Verwesung dennoch nur ein Übergang zu einem verwandelten Leben war. Denn das Leben in ihnen ist nicht zu Ende. Gleich nach dem Vorübergang der Schlacht sind die Einwohner in ihre verwüstete Heimat zurückgekehrt, und dicht neben dem Trümmerhaufen, der einmal Wohnstätte war, erhebt sich das neue Haus, dessen wachsender Aufbau allmählich die Trümmer in sich hereinnimmt, mit der Notwendigkeit und Unwiderstehlichkeit des Lebens, die hier nicht anders sich bekundet als in der tierischen und pflanzlichen Natur. Denn das ist ein Urtrieb des Menschen: zu hausen und zu bauen, wo er geboren ist. Diese Bauern waren keine Baumeister, aber einer hat es dem andern abgebrnt, wie man Ziegelsteine aufeinander- legt und mit Mörtel bindet und wie man der Wasserwaage sich bedient; und eine Mauer, die nicht lotrecht war und wieder einstürzte, hat sie nicht entmutigt, sie haben sie von neuem aufgeführt, Mauer um Mauer, Haus um Haus, oder sind noch dabei, es zu tun. Mit einer wunderbaren Kraft hat hier das Leben sich selbst geholfen, und so kommt es, daß das zur Hoffnung so willige Herz aus diesem Anblick trotz aller Schwere des Erinnerns Freude schöpft.

Freude? Aber nun dringt der Wagen in eine Welt ein, die nicht mehr Welt, in eine Landschaft, die nicht mehr Landschaft heißen darf. Was ist denn auf einmal geschehen? Zerrissene, kahle, abgestorbene Bäume, davon gab es doch auch vorher schon genug, sie sind kein neuer Anblick. Jetzt aber, unvermerkt, sind sie der einzige Anblick überhaupt geworden. Ja, alles Grün blieb zurück, es gibt ringsum nichts Grünes mehr, buchstäblich nichts, an keinem Wipfel und keiner Spitze irgendeines Zweiges. Wir sind im „Hürtgenwald”, und hier war der Höhepunkt jener Schacht um den Eingang ins Rheintal. Hier ist ehemals Wald gewesen, hoher, windatmender, mit Nestern und dem Geschwätz und Gesang von Vögeln in ihm, mit Schatten von Laub und Nadelholz, mit Stamm und Rinde und gutem, nährendem Waldboden, meilenweit, mit der Kühle zugleich und wohlig belebten Wärme dieses Wesens, das „Wald” heißt. — Und jetzt nichts! Der Boden ist verbrannt. Er trägt nur diese kahlen, leidienbaft weißen, von aller Farbe grausam entkleideten Baumgerippe, meilenweit! Niemand sieht ihnen an, was für Bäume es waren, sie selber wissen es nicht mehr, sie sind bis in ihre tiefe Wurzel, bis in ihre letzte Erinnerung hinein gestorben, sie recken ihre Stümpfe, ihre zersplitterten, spitzen Äste empor, viele Tausende toter Bäume — und es ist noch schrecklicher als alle verwüsteten Städte unsres Landes, die wir gesehen haben.

Daß der Mensch die ihm anvertraute Schöpfung so zu verwüsten imstande ist!

Daß er’s imstande ist — und daß er’s tut! „Sehet, da habe ich euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde, und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen”… so sagt der Schöpfungsbericht. Und hier steht dieser vernichtete, nackte Wald unter dem Himmel, und schämt sich unser; er umzieht sich mit Nebeln, als müsse er sich verbergen. Wahrhaftig, wir sind dankbar, daß heute kein blauer SonnenhLmmel darübersteht; wäre es möglich, man möchte dies hier verhüllen und für immer vergessen. Städte sind von Menschenhänden gebaut, sie von Menschen zerstört zu sehen ist schlimm genug, schlimm der Gedanke an all das vernichtete, unter Trümmern begrabene Leben aber wir wissen doch immer, wir werden diese Trümmer aufrichten. Hier aber, der Wald war kein Werk unsrer Hand, sondern etwas Anvertrautes, und was an ihm getan wurde, trifft das Gemüt mit noch tieferem, unerwartetem Schrecken.

Hunderttausende von Granaten sind in dieses Waldgebiet gefallen, man hat die Bäume in Brand geschossen, und noch die verkohlten Stämme abermals geknickt and zerfetzt. Fluggeschwader haben ihre Bombenteppiche auf den Wald gelegt, Minen über Minen, überall eingeborgen als böse Geheimnisse, haben den vordringenden Gegner aufzuhalten gesucht, Panzerwagen, alles vor sich niederbrechend, sind durch das Gestrüpp gerasselt, und von Graben zu Graben, von Stamm zu Stamm haben todesmutige Menschen einander bekämpft.

Dieser gestorbene Wald, der das Tun der Menschen anklagt, ist noch heute ein Grab für viele Tote. Dreißigtausend — Amerikaner und Deutsche — sind in- ihm gefallen, und wohl die meisten von ihnen liegen da noch, unbestattet; denn das Waldgebiet hat noch nicht entmint werden können, so bedeutet jeder Schritt in ihm eine Todesgefahr. Wer will fordern, daß der Lebende sich selbst au die Bergung der Toten wagt?

Aber es kam uns jetzt in den Sinn, was wir früher von einer Frau aus einer rheinischen Stadt gehört und was uns damals nur eine „Geschichte” war, die das Herz nicht in ihrer Eigentlichkeit aufgenommen hatte. Diese Frau hatte ihren Mann in der Schlacht um den Hürtgenwald verloren, und ein Kamerad hatte ihr’s angegeben und deutlich beschrieben, wo er gefallen war. Und sie kam hier herauf auf die Höhen und überschritt dieses weiße Band seitlich der Straße, von dem der Wald in seiner wüsten Kahlheit umzogen ist, sie ging vorüber an dem Schild, das sie anschrie: „Vorsicht! Minen!” ging vorüber, als beträfe sie das nicht, und sie suchte ihren lieben Toten. Mit jedem Schritt auf dem zerwühlten Grunde, in dem Gewirr der bleich verwaschenen, gebrochenen Äste wagte sie ihr Leben — und hätte man nicht, was sie tat, eine Sinnlosigkeit nennen können? Sie hatte Kinder, die ihrer bedurften, und sie setzte ihr Leben daran, um dem toten Vater dieser Kinder ein geweihtes Grab zu geben. — Aber ihr frommer Gang wurde behütet, sie fand, den sie suchte, und konnte seinen Leichnam bergen.

Wir fragten uns, zögernd, ob es wohl einer solchen Liebestat, höher denn alle Vernunft, bedurft habe, um den Hauch von Sinnlosigkeit über dem traurigen Ort zu besiegen. Ist der Hürtgenwald ein Gleichnis unsres Daseins in unsrem Jahrhundert, und dies die Aufgabe, die sich der Seele de Menschen stellt? Daß es nicht nur für die Frau gut gewesen sei, den Weg zu gehn, sondern in ihrem Tun etwas verbürgt, für das ganze Land und seine Menschen: das mußten wir zuversichtlich glauben. Und als wir’ dann herauskamen ins wiederum Grüne, ins übernebelte Tal der Roer hinunter, und aus seiner Tiefe ein schönes, fernes Glockengeläut uns entgegenklang, da war es uns wie ein strenges Wort, und wir wagten den Trost noch kaum zu fassen, den es uns geben wollte.

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