Hüter und Wärter der BLUTMASCHINE

Werbung
Werbung
Werbung

Der Krieg lässt sich nicht wie dreckige Stiefel vor der Wohnungstür abstellen. Der Krieg lässt sich nicht wie ein nasser Mantel in der Garderobe aufhängen. Der Krieg geht mit, sein Schmutz, seine Härte kommen bis ins Innerste des Lebens hinein, in die Menschen, in die Beziehungen, in die Gesellschaften.

Eine deutsche Feldpostkarte aus der Zeit des Kriegsjubels 1914/15 konnte sich diese verheerenden Auswirkungen eines Weltkriegs noch nicht vorstellen: Sie zeigt einen heimkehrenden Soldaten. Frau und Tochter empfangen ihn in schmucker Uniform, das Gewehr ist neben der Tür abgestellt und der Text der Karte lautet: "Wiedersehen! Nun wollen wir im trauten Heim /Recht fröhlich wieder beisammen sein!" 1918, bei Kriegsende, sind sowohl Text als auch Motiv dieser Karte zynisch, weltfremd, kriegsfremd. Schluss mit Trautheit, Fröhlichkeit, Beisammensein -nach dem Krieg war alles anders. Die Politik eingestürzt, die Gesellschaft umgestürzt, die Individuen abgestürzt, hungrig, krank, blind, verstümmelt, traumatisiert.

Das war nicht alles. Denn der Krieg hinterließ nicht nur seine Zerstörungen, er blieb auch. Er wechselte nur die Fassade, versah sich selbst mit dem Präfix "Bürger"-Krieg und mordete weiter. Es sollten nicht nur die 15 Millionen Toten der Schlachtfelder werden, sondern auch jene 20 Millionen, die nach 1918 in internen Konflikten in Europa ihr Leben verloren, bis der Zweite Weltkrieg weitere 100 Millionen hinzufügte.

Und als alles beendet war, blieb immer noch eine Frage: "Warum?" Wahr ist, dass nach dem Warum zu selten vor Kriegen gefragt wird und zu häufig ergebnislos danach. Kriegsschreiber und Experten bemühen sich seit mehr als 2000 Jahren um Thesen dazu, von Herodot über Tacitus, von Clausewitz bis Timothy Snyder. Aber die häufigste Erklärung für die Ratlosigkeit der Überlebenden ist die, dass nach dem Krieg die Motive für den Krieg häufig verschwinden, weil ja niemand an ihm Schuld gewesen sein will. Auch an diesem Ersten Weltkrieg nicht, der vor 100 Jahren zu Ende ging. Der deutsche Kaiser nicht, die Habsburger nicht und auch die Franzosen und die Briten nicht. Winston Churchill meinte damals, Europas Mächte seien einer "Macht der Natur" erlegen.

Und hier, in Churchills Leugnung, liegt trotz ihrer Hilflosigkeit das Zentrum aller Fragen: Ist der Mensch von Natur aus kriegerisch? In der Weise, dass jene Recht behalten, die den Philosophen Heraklit missverstehen wollen, indem sie ihn mit "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" zitieren, der vertonten Rechtfertigung der Philosophie zum gegenseitigen Mord? Heraklit aber sagte "Polemos" und wer den Rest seiner Fragmente liest, weiß, dass damit nicht Krieg, sondern der "Gegensatz" gemeint war. Der Rest ist Erkenntnislehre.

Die evolutionäre Möglichkeit

Tatsächlich sind Raub und Mord nur zwei von vielen Möglichkeiten, gegensätzliche Interessen auszutragen -und sie sind entwicklungsgeschichtlich relativ späte Phänomene in der 3,5 Milliarden Jahre dauernden Geschichte des Lebens. Denn erst vor etwa 400 Millionen Jahren begannen Haifischarten Zähne zu entwickeln und auf die Jagd zu gehen. Es war eine sehr effiziente und erfolgreiche Weise, an Nahrung und Energie zu kommen. Und dabei, bei der Eroberung von Ressourcen, ist es bis heute als Motiv geblieben. Klingt zunächst hoffnungslos, ist aber mit einer beruhigenden Statistik verbunden: In der Steinzeit starben 20 von hundert Menschen einen gewaltsamen Tod. Im 20. Jahrhundert war das Verhältnis auf 1,5 Prozent zurückgegangen.

Ist der Mensch also lernfähig, in dem Sinn, dass er weiß, was nach dem Krieg kommen soll? Damals, 1918, war dem nicht so. Leere statt Lehre: "Wären wir 1916 heimgekommen, wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt", schreibt Erich Maria Remarque in seiner Weltkriegs-Abrechnung "Im Westen nichts Neues". Aber 1918 war die Stärke verbraucht, nur mehr der Schmerz übrig: "Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. Man wird uns auch nicht verstehen "

Führt das gegenseitige Nicht-mehr-verstehen-Wollen in den Krieg, stehen am Ende davon völlige Rat-und Verständnislosigkeit. "Es will uns scheinen", lautet Sigmund Freuds Gesellschaftsdiagnose 1919, "als hätte noch niemals ein Ereignis so viel Kostbares der Menschheit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt." Der Anfang der Bibel steht am Ende jedes Krieges: "Die Erde war wüst und leer." Tohuwabohu. "Hälse zwischen Stiefel verflochten, in schweren toten Schlaf versunken", schildert eine Zeitungsreportage das Ende des Ersten Weltkriegs am Wiener Nordbahnhof: "Es sieht aus, als wäre das ein Schlachtfeld mit den aufgehäuften, nicht begrabenen Hingeschlachteten."

Aber es gibt auch andere Geschichten vom Krieg und sie gehen den Erzählern viel leichter von der Zunge. Über Helden der Schlachtfelder, Heroen, die die gesamte Überlieferung des Abendlandes bevölkern, von Achilles bis Siegfried, von den Argonauten bis zu King Arthur. Das sind Geschichten einer Kultur des Massenmordes, wie Freud an anderer Stelle sagt. Diese Geschichten verklären die Schmerzen und verhüllen die Motive des Krieges: Macht, Macht und Macht.

Die Wohltaten des Krieges zu erforschen, ist ein neuerer Zweig der Forschung. Der Historiker Ian Morris hat in "Krieg. Wozu er gut ist" dargelegt, wie Krieg zu Eroberungen und die Eroberungen zu größeren Reichen führten, die bei guter Verwaltung Reichtum und Wohlstand erzeugen. Die den Untertanen mehr Schutz boten als vor der Eroberung und die letztlich eine Verringerung der Gewalttaten zur Folge hatten. Kriege, so Morris, führen letztlich zum Frieden. Das Optimum einer solchen Kriegsleistung sieht Morris im römischen Reich. Die Diagnose aus "Krieg. Wozu er gut ist" ist zunächst verstörend, aber dann auch wieder nicht, wenn man die Methode sieht, die Morris anwendet. Denn sie passt unfreiwillig in eine nach ökonomischen Gesichtspunkten, nach Input und Output, nach Human Resources geordnete Gesellschaft. Der auf Güter und Material hin gepolte Mensch rückt sich seine Unmenschlichkeit statistisch zurecht. Gewinner in dieser vollkommenen Ordnung der Dinge ist nach Morris Darstellung deshalb wenig überraschend der Sieger auf dem Schlachtfeld, sofern er sich als guter Despot herausstellt. Die Verlierer werden vom Zivilisationsschub, den die Einverleibung in ein Großreich auslöst, mitbeglückt. Und natürlich ist all das von der unsichtbaren Hand des Eigennutzes und Machterhalts des Eroberers getrieben.

Historische Illusionen

Aber so wie in der wirklichen Ökonomie verdirbt und verleidet die Realität das schöne Konzept vom Heilsplan des Blutigen. Denn sie kann die Ursächlichkeit des Krieges für den allgemeinen Wohlstand in keinem einzigen Fall schlüssig beweisen. Viel eher drängt sich der Verdacht auf, dass Großreiche samt ihren Kaisern und Diktatoren dann zugrunde gehen, wenn ihnen das Futter an raubbaren Reichtümern und plünderbaren Staaten in ihrer Nachbar-

Hüter und Wärter der Blutmaschine

schaft ausgeht. So bleibt dem abendländischen Menschen bisher nur eine positive Kriegsfolge übrig, in einer vorläufigen Bilanz: Das ist die Europäische Union, die seit 1957 den Frieden in Europa garantiert und trotzdem immer wieder angefeindet wird. Aussagekräftig übrigens, dass sie in Morris Loblied auf den Krieg mit keinem Wort erwähnt wird.

Deshalb etwas europäische Geschichte, über 370 Jahre alt. Ein Massengrab aus dem Dreißigjährigen Krieg ist derzeit in der Sonderschau "Krieg. Auf den Spuren einer Evolution" im Wiener Naturhistorischen Museum zu sehen. Es besteht aus 47 Skeletten, ein Relikt der Schlacht von Lützen südwestlich von Leipzig, in der 30.000 Soldaten des schwedischen und des kaiserlichen Heeres, befehligt von König Gustav II. Adolf und Generalissimus Wallenstein, gegeneinander kämpften. Am Abend des 16. November 1632 lagen über 6000 namenlose Tote auf dem Schlachtfeld, ohne dass es einen eindeutigen Sieger gegeben hätte. Laut Untersuchungen gehörten die Gebeine im Massengrab zu mangelernährten, an verschiedenen Krankheiten, schlecht verheilten Verletzungen und von den Gewaltmärschen abgenützten Gelenken leidenden Männern zwischen 15 und 45 Jahren. "Das waren keine strahlenden Helden", so Ausstellungsmacher Harald Meller, "das waren ausgezehrte und versehrte Menschen, die in die Schlacht humpelten." Oder wie Bertha von Suttner vor dem Ersten Weltkrieg vor der Unvernunft des Krieges warnte: "Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut soll immer wieder mit Blut abgewaschen werden."

Die ewigen Muster

Einer der Toten der Schlacht von Lützen war der Heerführer Gustav Adolf. Sein Waffenrock gelangte damals als Beutegut nach Wien. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde der Rock von der jungen Republik Österreich an Schweden zurückgegeben. Als Dank für die schwedische Lebensmittelhilfe. Denn die Lebensmittelversorgung brach mit Ende des Krieges fast völlig zusammen.

In vielen Teilen des Landes bildeten Bauern Schutzverbände, um sich der heimströmenden und dabei plündernden Soldaten zu erwehren. Diese Verbände bildeten den Kern der späteren Heimwehren, die in der Geschichte der Ersten Republik noch eine unselige Rolle spielen sollten. Gleiches gilt für die Unmengen an Waffen, die von den Soldaten mit nach Hause genommen wurden. So wie ihre Traumatisierungen. Das zugehörige Gesetz der Folge ist grausam einfach: Wer lange Kriegsjahre gedrillt wurde zu töten, wird nach Kriegsende nichts dabei finden, diese Konditionierung an politischen Gegnern auszuleben.

So wird im Ende des Krieges die Saat für den nächsten gelegt. Ein Muster, das sich wiederholt bis heute. Was ist also nach dem Krieg? Krieg. Es sei denn, wie Camus gesagt hat, die Menschen bringen den Mut auf, Angst vor dem Krieg zu haben. Nur wenige waren bisher dazu Helden genug.

In der Steinzeit starben 20 von hundert Menschen einen gewaltsamen Tod. Im 20. Jahrhundert war das Verhältnis trotz der Kriege auf 1,5 Prozent zurückgegangen. Ein Zeichen von Lernfähigkeit?

Nach dem Krieg

Vor 100 Jahren ging der Erste Weltkrieg zu Ende. Aber der Friede kam nicht. Nur das Vorspiel zum nächsten Schlachten. Ist der Mensch fähig, aus seinen Taten zu lernen oder ist Krieg eine unausweichliche menschliche Eigenschaft? Eine Bestandsaufnahme von 1918 bis heute, von den Schlachtfeldern von Verdun bis zu den Kriegen in der Ostukraine und in Syrien.

Redaktion: Oliver Tanzer

Krieg im Bild

Picasso malte 1937 das Massaker von Guernica durch die faschistischen Truppen aus Deutschland und Italien. Zwei Jahre später kam der nächste Weltkrieg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung