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Hunger nach Größe

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Paris, im September Die Entwicklung Frankreichs im letzten Halbjahrzehnt hat merkwürdig angespannten Charakter. Das liegt daran, daß sie das Ergebnis zweier gegeneinander laufenden Kraftströme ist. Auf der einen Seite wird mit großem Aufwand an Energie versucht, den Status quo zu halten und die eigenartige Sonderstellung Frankreichs in der modernen Welt zu wahren. Auf der anderen Seite aber setzt sich diese „andere Welt" mit ihrem natürlichen Schwergewicht auch in Frankreich selbst auf mehr und mehr Lebensgebieten durch und verwischt die Unterschiede zum Ausland. Eines der auffälligsten Beispiele dafür ist die Bewegung der „Halbstarken", die sich in diesem Jahr in Frankreich einer Stichflamme gleich ausgebreitet hat. Es ist aus mit dem traditionellen Bild einer allzu sehr schon der Welt angeglichenen französischen Jugend, die in unjugendlichem Eifer von „Concours“ zu „Concours“ hastet und wohldressiert jegliche Rebellion ablehnt. In diesem Sommer haben viele Hunderte von Jugendlichen in rebellistischer Form manifestiert, daß sie etwas anderes sein wollen als die „Croulants“ die Einstürzenden wie die Eltern im Pariser Gymnasiastenjargon von heute liebevoll genannt werden.

Ein Phänomen wie die deutsche „Jugendbewegung", diesen anarchisch-idealistischen Ausbruch in die Wälder vor einem Hahlbjahr- hundert, hat Frankreich nie gekannt. Die Organisationen der „Eclaireurs“, der Pfadfinder, waren immer der Initiative Erwachsener, vor allem der katholischen Kirche, entsprungen und hielten stets an dem so unjugendlichen „Behaviorismus“ Baden-Powellscher Prägung fest. Erst die existentialistischen „Zazous“ vor einem Jahrzehnt waren ein Ausbruch anarchischer Färbung, der die Welt der Erwachsenen in Frage stellte. Aber er war einseitig auf Paris beschränkt, stark von Ausländern durchsetzt und zudem ohne das ungewollte Patronat von Sartre und Camus nicht denkbar. Heute aber steht mäh vör einem Ausbruch der französischren Jugend, der auf den ersten Blick keinem Erwachsenen mehr in die Schuhe geschoben werden kann.

Daß diesem Ausbruch die idealistisch-romantische Färbung der einstigen deutschen Jugendbewegung mit ihren Klampfen und Schillerkragen abgeht, ist bekannt. Zum mindesten ist es eine Romantik von anderer, modernerer Art eine „motorisierte Romantik" sozusagen. Die Tracht der „Zazous" war immerhin noch eine Karikatur des Boheme-Lebensstiles und damit der Abglanz der alten bürgerlichen Welt. Die Tracht von heute hingegen — Blue-Jeans, schwarze Lederjacken, wildflatterndes Haar — ist James Dean, dem mit Motorenlärm dem Abgrund entgegenknatternden Filmidol aus USA, nachgemacht. Drum haben die französischen Halbstarken auch den Spitznamen „blousons noirs“ Schwarzjacken erhalten, der seit diesem Sommer die alte Bezeichnung „demi-sel“ halbgesalzen ganz verdrängt hat. Und die Lieblingswaffe dieser Jungens ist ja auch der technischen Welt entnommen: Fahrradketten nämlich, deren harte Geschmeidigkeit es ihnen angetan zu haben scheint.

Aber nicht nur der gierige, oft an religiösen Wahn erinnernde Hang zu den Attributen der technischen Welt — dem Motor und dem Jazz — kennzeichnet diese Schwarzjacken. Hinzu kommt, daß diese Jungen und Mädchen zwischen 15 und 20 Jahren offensichtlich leicht die Grenze zwischen jugendlichem Temperamentsausbruch und Kriminalität überschreiten. Nach offiziellen Statistiken kommt heute in Frankreich jeder zehnte Angehörige dieser Altersklasse mit der Polizei in Berührung. Das ist auch dann erschreckend, wenn man danebenhält, daß das in den USA bereits für jeden vierten zutrifft.

In den verflossenen Monaten haben die „blousons noirs“ oft die Schlagzeilen der Zeitungen gefüllt. Es wurde von organisierten Banden berichtet, die sich nicht nur in gewissen Pariser Vierteln, sondern auch in der Banlieue und der Provinz untereinander Straßenschlachten lieferten, zwischendurch aber auch harmlose Passanten attackierten. In der Ferienzone des Südens von Frankreich griffen sie Ferienkolonien und Badestrände an, demolierten Cafes und die Autos von Touristen. Auch von organisiertem Autodiebstahl und Prostitution vor allem homosexueller Richtung war die Rede. Man kann jedoch nicht sagen, daß die eifrige Beschäftigung der Presse mit diesen Dingen das Problem geklärt hätte. Zuviel wurde willkürlich aufgebauscht, und gewisse illustrierte Blätter ent- blödeten sich nicht, Jugendliche zu gestellten „Reportagen" anzuheuern.

Eine gewisse Klärung hat jedoch eine Spezialbrigade von zwanzig Polizeibeamten notabene alles Familienväter I erreichen können, die während der Ferienzeit an der Cöte d’Azur die Fälle von ein paar tausend umherstreunenden Jugendlichen untersucht hat. Das Abendblatt „Paris-Presse“ hat eingehend über diese Enquete berichtet. Dreierlei sticht dabei heraus. Erstens einmal sind diese Schwarzjacken nicht die Angelegenheit bestimmter Gesellschaftsklassen und damit das Ergebnis wirtschaftlicher Not. Sie entstammen ebenso den begüterten Schichten wie den minder bemittelten. Zweitens wird das Sinnlose so vieler Akte dieser Jugendlichen hervorgehoben. So wird von einem Jungen berichtet, der von seinem Vater einen Sportwagen geschenkt erhielt und zwei Tage später einen anderen Wagen stahl. Das Ziel ist offensichtlich nicht in erster Linie, sich das Leben bequemer zu gestalten, sondern vielmehr, sich vor den Kameraden zu bewähren, als „caid“ „Hirsch“ dazustehen.

Als dritter wesentlicher Punkt sei hervorgehoben, was jene Spezialbrigade als Hauptursache — neben einer Reihe von Nebenursachen — für die anschwellende Jugendkriminalität angibt: das Versagen der Familie. Allzu vielen Jugendlichen werde unglaubliche Freiheit gelassen, und die notwendige Autorität des Vaters falle aus, weil dieser keine Zeit mehr für seine Kinder habe. „Jene strenge Erziehung, welche in gewissen modernen pädagogischen Theorien so schlecht wegkommt, hatte ihr Gutes. Je raffinierter die .Tests’ werden in einem Lande etwa den USA, zu einer desto schlimmeren Geißel wird die Jugendkriminalität. So nimmt auch die Delinquenz in Frankreich zu, seit man bei den französischen Erziehern die .Komplexe so ernst nimmt. Das ist wie beim Tabak und Krebs: vielleicht hängt es gar nicht zusammen, aber die Parallelität zum mindesten ist verwirrend.“

Es fragt sich allerdings, ob der Kreis der „Schuldigen" nicht über die Familienväter und die Lehrer hinaus erweitert werden muß. Zu Beginn dieses Jahres haben wir auf gewisse Beziehungen des Halbstarkenproblems zur Politik hingewiesen. Es ist kein Zufall, daß der „Saalschutz" der faschistischen Organisation „Jeune Nation" aus lauter ganz jungen Leuten in — „blousons noirs" besteht. Diese kleine Bewegung, die — zur „Nationalistischen Partei“ umgewandelt — von der Fünften Republik verboten wurde, darf gewiß nicht überschätzt werden. Ihr Symptomwert beruht aber gerade darin, daß sie zum überwiegenden Teil aus jenen Sechzehn- bis Zwanzigjährigen besteht, die man sonst kaum in irgendeiner politischen Organisation Frankreichs, nicht einmal mehr bei den Kommunisten, antrifft. Einer der Führer von „Jeune Nation“ sitzt seit Mai im Gefängnis, weil er einen Ueberfall Jugendlicher auf mit weißen Mädchen spazierende Neger angestiftet haben soll. Was zieht die Jungen an dieser Bewegung an?

In der Jugend steckt ein unbändiger Drang nach dem Absoluten, dem Unbedingten, dem Hundertprozentigen. Die jungen Kerle finden es bei der „Jeune Nation" zum mindesten im Negativen, in der Ablehnung der Fünften Republik wie jeder Republik überhaupt. Und sie werden es immer wieder bei totalitären Bewegungen zu finden glauben. Die westliche Welt stellt zu sehr heraus, was sie an Kompromiß zwischen verschiedenen Haltungen, an Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen ist — nicht das, was, auch an ihr, unbedingte Entschiedenheit ist.

Hat Frankreich heute seiner Jugend jene hohen Ziele zu bieten, die nun einmal auch der französische Junge verlangt, ehe er mit vorrückendem Alter zum Angeln und zum Bistro resigniert? Ein Teil dieser Jugend — und sicher nicht der schlechteste — glaubt ein solches Ziel im Algerienkrieg zu finden. Aber er spürt natürlich, daß der Staat diesen Krieg mit schlechtem Gewissen führt. Das Problem der französischen ..Schwarzjacken" ist nicht aus dem Zusammenhang aller französischen Probleme zu lösen; für sich vereinzelt wird es niemals eine Lösung finden.

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