"Ich bin ein reines Wunder“

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Ursula Mayer ist Alkoholikerin. Früher hat man sie ob ihrer Trinkfestigkeit bewundert, dann wurde Schnaps zum Überlebenselixier. Heute ist sie längst trocken - und freut sich an der späten Chance, die Schönheit des Lebens endlich nüchtern zu sehen.

Es geht ihr gut, um nicht zu sagen ausgezeichnet. Mit bunter Bluse und glänzenden Augen sitzt sie in ihrer kleinen Wohnung in der Wiener Lerchenfelderstraße und fährt ihren Katzen Lucy und Lauser durchs Fell. Drei Meter weiter hockt ihre 34-jährige "Ziehtochter“, mit der sie sich besonders verbunden fühlt: Beide haben exzessiv getrunken; und beide haben trotzdem wieder Fuß gefasst. Die regelmäßigen Meetings bei den "Anonymen AlkoholikerInnen“ in Wien helfen ihnen dabei, Tag für Tag trocken zu bleiben. Geheilt werden kann diese Suchtkrankheit schließlich nie.

"Ich bin ein reines Wunder“, sagt Ursula Mayer. "Ich habe überhaupt keine körperlichen Beschwerden - im Gegensatz zu vielen anderen, die weniger grauslich mit sich umgegangen sind.“ Zig Mal hätte sie schon sterben können. Und trotzdem sitzt die eloquente 67-Jährige heute strahlend in ihrer Wohnung und erzählt ihre Geschichte: ohne Schuldzuweisungen, ohne Bitterkeit.

"Etwas hat nicht gestimmt“

Es ist der Allerheiligentag des Jahres 1943, als sie in Wien-Favoriten geboren wird - mitten hinein in einen Bombenangriff und in eine kaputte Familie. Das Mädchen ist ein Unfall, die ungewollte Folge einer Liaison ihrer Mutter, deren Ehemann sich in Kriegsgefangenschaft befindet. Verzweifelt und vom Suizidversuch ihrer eigenen Mutter schockiert, will sie ihr Kind alleine aufziehen und lässt sich scheiden. Doch ihr Ex-Mann nimmt wieder Kontakt zu ihr auf, heiratet sie erneut und adoptiert das fremde Kind. "Das alles habe ich lange nicht gewusst, aber es ist immer in der Luft gelegen, dass etwas nicht stimmt“, erzählt Ursula Mayer. Erst mit 14 Jahren, als ihre Mutter sich das Leben nehmen will, erfährt sie aus einem Brief die wahre Geschichte. Doch kaum kehrt die Mutter aus dem Spital zurück, verschwindet das Thema wieder hinter einer Mauer des Schweigens. Wie jedes andere Gefühl.

Vielleicht liegt darin die Ursache für ihre spätere Sucht, für ihre Haltlosigkeit, für ihre problematischen Beziehungen - und für ihre rätselhafte Erkrankung als 15-Jährige. Zwei Jahre lang liegt sie auf der Baumgartner Höhe und schafft mehr recht als schlecht den Handelsschulabschluss. Doch ob im Spital, in der Schule oder später in der Arbeit: Die junge Frau ist beliebt. Sie kann reden, hat Humor - und trinkt alle unter den Tisch. "Es hat immer geheißen: Ursula, trink aus, ich kann nicht mehr. Und die Ursula hat immer ausgetrunken.“

Mit 21 Jahren heiratet sie, bekommt eine Tochter, lässt sich nach zehn unglücklichen Ehejahren scheiden und flieht mit ihrem Kind nach Tirol zu ihrer Halbschwester. Dass sie die Kleine nicht in Wien gelassen, sondern in ihr eigenes, haltloses Leben mitgenommen und damit schwer belastet hat, betrachtet sie noch heute als nicht gutzumachenden Fehler. Es ist auch in Innsbruck, als sie beginnt, Alkohol bewusst als Medizin gegen die Unerträglichkeit des Lebens einzusetzen. Die Dosis, die sie braucht, um sich abends nicht mehr zu spüren, doch morgens als Rechtsanwaltsgehilfin problemlos zu "funktionieren“, steigert sich stetig: In Tirol ist es noch ein Wasserglas voll Schnaps; zig Jahre und zwei Ehen später in Wien ist es eine dreiviertel Flasche Wodka. "Ich habe gern klare, ehrliche Getränke getrunken, weil das ist ja gesund“, sagt sie feixend.

Zehn Jahre hält ihr Körper das aus, bis sie einen Nervenzusammenbruch erleidet und der Arzt meint, sie hätte ein Alkoholproblem. Peinlich berührt geht sie nach Kalksburg, "um das wegzuhaben“. Nach drei Wochen fühlt sie sich erholt, die Leberwerte sind ohnehin normal. Also geht die Selbstzerstörung weiter. Alkoholikerin? Niemals!

Nach der Scheidung von ihrem dritten Mann zieht sie schließlich hierher in die Lerchenfelderstraße, um zu sterben. Doch eine Bekannte, die früher selbst alkoholkrank war, stürmt mit der Polizei die Wohnung. Es ist auch diese Freundin, die sie erstmals zu den Anonymen Alkoholikern zwingt. Widerwillig sitzt Mayer da, geniert sich zu Tode. Zwei Tage später kommt sie trotzdem wieder. Hier fragt sie niemand nach ihrem Namen und ihrem Beruf, hier kann sie anrufen, wenn ein Rückfall droht. Ein Jahr lang bleibt sie trocken, stürzt dann ab, bleibt wieder trocken, stürzt wieder ab: Nach einem Meeting bei den "Anonymen“ kauft sie sich einen Doppelliter Wein, schlägt den Hals der Flasche ab, trinkt sie leer und ekelt sich vor sich selbst: "Erst da habe ich erkannt: Ich bin eine Alkoholikerin - und sonst gar nichts.“

Endlich Ja zum Leben sagen

15 nüchterne Jahre ist das mittlerweile her. Heute besucht Ursula Mayer ein bis zwei Mal wöchentlich die Meetings der "Anonymen“, gibt ihrer "Ziehtochter“ Halt, schreibt Gedichte und Erzählungen, spricht in den Justizanstalten Göllersdorf und Josefstadt mit alkoholkranken Insassen - und in Schulen über die Achterbahn ihres Lebens. Angst vor einem Rückfall hat sie keine mehr: "Ich habe gelernt, mein Leben so erfüllt zu gestalten, dass ich gar nicht mehr in gefährdende Situationen gerate“, sagt sie und blättert in ihrem Erfahrungs-Buch "Blumen schenkt man nicht mit Gewalt“. Worauf es im Kampf gegen die Alkoholsucht ankommt, glaubt sie heute zu wissen: dass es nicht ausreicht, einfach nichts mehr zu trinken, sondern dass man endlich Ja zum Leben sagen muss. "Manche“, sagt sie strahlend, "manche brauchen halt ein bisserl länger, um das zu begreifen.“

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