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„Ich bin kein üblicher Mensch“

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Dem wahren Kunstwerk wird auch die sorgfältigste, die kennt-nis- und verständnisreichste Analyse nicht auf den Grund kommen. Immer bleibt ein unauslotbarer Rest, von dem die eigentliche Verzauberung, die eigentliche Strahlkraft ausgeht. Fast könnte man sagen, daß sich an diesem Rest die Wahrhaftigkeit des Kunstwerks erweist. Die Briefe der Dichterin Else Lasker-Schüler, die jetzt in einer zweibändigen Auswahl vorliegen (Kösel-Verlag, München), sind ein solches Kunstwerk und sind es deshalb, weil sie mit dem lyrischen Oeuvre wie mit der menschlichen Erscheinung ihrer Verfasserin in vollkommenem Einklang stehen

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Dem wahren Kunstwerk wird auch die sorgfältigste, die kennt-nis- und verständnisreichste Analyse nicht auf den Grund kommen. Immer bleibt ein unauslotbarer Rest, von dem die eigentliche Verzauberung, die eigentliche Strahlkraft ausgeht. Fast könnte man sagen, daß sich an diesem Rest die Wahrhaftigkeit des Kunstwerks erweist. Die Briefe der Dichterin Else Lasker-Schüler, die jetzt in einer zweibändigen Auswahl vorliegen (Kösel-Verlag, München), sind ein solches Kunstwerk und sind es deshalb, weil sie mit dem lyrischen Oeuvre wie mit der menschlichen Erscheinung ihrer Verfasserin in vollkommenem Einklang stehen

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Mein Herz ist verhungert Meine Seele ist zerpflückt Von einer furchtbaren Taube Und meine Glieder gleichen irregewordenen Lilien So hat niemand barfuß sein Herz gehen lassen Durch die Menge Wie ich

Mein Herz ist eine traurige Zeit

Die tonlos tickt

Und alle sind wir so traurig

Und alles trägt darum

Da mir alles dunkel

Einen bangen Schattenschleier

Es ist ein Weinen in der Welt

Als ob der liebe Gott gestorben wäre

Ich hab so Angst gekriegt vor der

Welt

Wenn ich nachts aufwache, glaube

Ich

Ich liege in der Nacht wie im Wasser und es geschieht etwas Wahnsinniges überall dort Wo wir nicht hinsehen können

HätV ich nur die Welt überstanden! Die kursiv gesetzten Zeilen sind Zitate aus Gedichten. Das andere sind Briefstellen. Aber ist es wirklich „anders^jjjj.^, v,/,^ ^ 0j9jgnj Else Lasker-Schüler lebte genauso, wie sie schrieb, und schrieb ihre Briefe genauso wie ihre Gedichte. Sie lebte und schrieb in einem mit Hochspannung geladenen Kraftfeld, auf dem sich die Zusammenstöße zwischen Realität und fugenlos zurechtgezimmerter Traumwelt vollzogen. An Reibungsflächen herrschte kein Mangel. Manchmal erfolgten Entzündung und Explosion nahezu selbsttätig, manchmal kam's über ein Glimmen und Glosen nicht hinaus. Aber niemals sprangen die Funken in eine falsche Richtung. Es war kein Falsch an dieser außerordentlichen Frau, die zeit ihres Lebens ein Kind geblieben ist, auch dort — und gerade dort —, wo sie sich als uralter Bestandteil eines uralten Volkes fühlt:

„Und immer, immer noch der Widerhall / In mir / Wenn schauerlich gen Ost / Das morsche Felsgebein / Mein Volk / Zu Gott schreit“, sang sie in den 1920 erschienenen „Hebräischen Balladen“ — und kann zur gleichen Zeit einen Ihrer Korrespondenzpartner fragen: „Sind Sie, wie ich es bin, ewig Hjährig?“, kann einem andern vollkommen sachlich mitteilen: „Ich werde morgen 202 Jahre alt“, kann von einem dritten sagen: „Er kennt mich nur gewandlich, aber nicht meine Sterne und meine Düsterkeiten, dazu gehört das Kennen tausendjähriger Augen“, und kann den Brief an einen vierten mit dem sehnsüchtigen Seufzer abschließen: „Ich wollte, ich war Jemand sein Kind!“

Da kein Jemand sich fand, ist sie ihr eigenes Kind geworden und hat sich ihre eigene Wirklichkeit gebaut, ein farbentolles Traumreich in einem phantastischen Orient, wo sie als „Jussuf, Prinz von Theben“ oder als „Tino von Bagdad“ über die von ihr ernannten Vögte und Kalifen und Bischöfe herrschte, wo es keinen Unterschied zwischen Hebräisch und Arabisch gab, wohl aber ein von ihr selbst erfundenes „Syrisch“ (das auch in ihre Briefe einfloß), und wo in streng geordneter Hierarchie auch Inkas und Indianer Platz fanden, und alle ihre Untertanen wurden reich von ihr beschenkt: „Ich werde Dir zehn weiße Elephanten sehen-

ken, meine Silbertauben, meine Gärten und verzuckerte Rosen, Salbengefäße, meine 3 Sudanneger und meinen Ring, in dessen Stein sich der Himmel spiegelt.“ Sie hat auch ganz „wirkliche“ Geschenke gemacht, sich selbst und anderen, „einen neuen Gürtel und eine gläserne lila Uhrkette“, „einige bunte Glaskugeln und einen silbernen Schwan aus Schaumglas“, und war hernach immer „total ruiniert“. Aber was verschlug's. Geldnöte und Wohnungskalamitäten, Liebeskummer und Weltschmerz, Lebensangst und Hebräerstolz („Du weißt doch, ich bin ein Jude“), jauchzendes Selbstbewußtsein und hilflose Enttäuschung hatten in ihrem Leben wie in ihren Briefen den gleichen Stellenwert und sind so wenig voneinander zu trennen oder zu unterscheiden wie ihre Briefe von ihren Gedichten, wie ihre Märchenwelt von der realen.

Manchmal, aus all ihrer Versponnen-heit, glücken ihr Einsichten und Einblicke von erstaunlicher Schärfe: „Hier gibt es nette Künstlerinnen und Freudenmädchen im Cafe, die haben wenigstens Takt'V- sehi^rta) Gegensatz zu den Bürgermädchen, den „Corsettfabrikantentöchtern mit künstlichen Busen oder Lockenfrisuren oder Kellnerschreienden wulstigen Lippen“. Über eine neu Aufgetauchte berichtet sie: „Ulley ist eine zarte Figur aus blauem Glas, aber sie spricht affektiert, das tun Dienstmädchen aus feinem Haus“, und klagt immer wieder über ihr vergebliches Bemühen um finanzielle

Hilfe: „Geld ist eine Sammlung wie eine Bildersammlung, Geiz und Undankbarkeit ist ein Paar gewesen, das man auseinanderschnitt“; und möchte immer wieder flüchten „von allen Menschen fort, die kein Gewissen haben und so pflichttreu sind nicht trauern können nur jammern nicht jubeln können nur lachen und keine Feste geben“.

Aber so müde und melancholisch der Grundton fast aller ihrer Briefe ist — kaum einer, in dem sie nicht bangt, daß sie sich „bald nicht mehr am Leben halten“ könne —: es wird ihr doch stets die Rettung ins Phantastische zuteil, der Trost an bunten Gläsern und Ketten und oft genug ein Ausgleich durch ihren kauzigen, in keiner Weise schmerzlichen Humor: Es gibt, so entdeckt sie, „Frauen, die verstehn einen gesprochenen Satz umgekehrt“. Ein ihr persönlich unbekannter Briefschreiber wird gefragt: „Sind Sie Lehrer gewesen? Oder Ehemann? Beides unsympathische Berufe.“ Einem andern erzählt sie vom fallengelassenen Plan zu einem Theaterstück: „Es hieß Methusalem dessen älteste Söhne: Zwillinge 500 Jahre alt jeder, auch noch lebten. Sie konnten nur noch nein und ja sagen und verwechselten die beiden Worte stets.“ Und in ihren Briefen an einen Londoner Literaturhistoriker versucht sie's mit einem monströsen Gemisch aus Deutsch und Englisch: „Wil jou erwähnen in jour Anthologie my books?“ oder „I am angry so much over that Rino-ceros, he ist geizig.“ Sie stand hoch in den Sechzig, als ich sie in der Zürcher Emigration kennenlernte. Aber ihre dunkelbraunen Augen brannten wie die einer Zwanzigjährigen, und ihr verschmitztes Lächeln, wenn sie auf einen Schabernack sann, war vollends jungmädchenhaft. Doch zugleich war's ein zeitlos gespenstischer Anblick, sie in ihrem schwarzen Umhängtuch die Häusermauern entlanghuschen zu sehen. Ich fragte sie einmal, ob ich sie „die Himmelshexe“ .nennen.dürfe. Dia Wortprägung, gefiel ihr, die Anwendung nicht, und die Gebrauchslizenz wurde mir nur für den Eigenbedarf erteilt, nicht vor den anderen.

Vor den anderen hatte sie „Flaischlen im Herzen, Sonne in der Milz“ — so sagte sie's in einem an mich adressierten Scherzgedicht (es ist in den von Friedhelm Kemp herausgegebenen „Sämtlichen Gedichten“ enthalten und kommentiert). Jetzt,

im zweiten der Briefbände, finde ich in einem 1943 in Jerusalem geschriebenen Brief die Wendung: „Ich bin ohne Sonne, nach Flaischlen, aber mit dem Mond im Herzen und dem Vielfraß im Magen.“ Dieser Cäsar Flaischlen muß ihr mit seinem Lesebuchgedicht „Hab Sonne im Herzen“ fürchterlich auf die Nerven gegangen sein.

Es gehört zur irisierenden (und irritierenden) Vielfalt ihrer Persönlichkeit, daß die gleiche Else Lasker-Schüler, die so unheimlich tief ins Geheimnis der „heiligen Poesie“ eingedrungen ist, in ihren Briefen manchmal recht unehrerbietig mit der Sprache umgeht und plötzlich draufloszuredmen beginnt wie irgendein bierulkiger Dilettant: „Der erste Bogen war noch fein / In den zweiten biß ein Dachs hinein“ oder „Vorgestern kam ich an aus Wien / Denn von Triest ging ich dorthin“. Oder sie verfällt in den

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heimischen Wuppertaler Dialekt (den sie „richtiger“ schreibt als das richtige Deutsch) und bemerkt von einem Brief: „Eck schriewe ömm in die Kaschemme / Eck sitz dort jene, bin eck in die Klemme“. Und noch 1942 in Jerusalem: „Verzeiht, Adon, in dieser Zeit I Näht man aus Lumpen sich ein Kleid / Und schreibt auf Fetzen einen Brief / Er kommt ja nicht in edn Archiv.“ Nun: Er kam. Und im übrigen ergab sich aus ihrer Begegnung mit dem wirklichen Jerusalem, mit „Gerusa-lemme unserer frommen Stadt“, wo sie ihre letzten Lebensjahre zubrachte, weder Bestätigung noch Ernüchterung. Es störte sie nicht. Sie träumte an Ort und Stelle weiter („Nichts geschieht wirklicher als in meinem Kopf“). Freunde erzählen, daß sie einmal auf einen arabischen Eseltreiber, der sein Tier prügelte^, mit geschwungenem Regenschirm und mit dem Ausruf „Allah il Allah“ losstürzte, denn das war ihr gesamter arabischer Wortschatz. Es störte sie nicht.

Bleibt noch zu vermerken, daß unter den Empfängern ihrer Briefe sich Martin Buber und Ludwig von Ficker befinden, Richard Dehmel und Paul Zech, Franz Werfel und Gottfried Benn und Max Brod (ihre Briefe an Karl Kraus sind gesondert erschienen), daß die einzigen durch und durch ernsthaften, sozusagen „erwachsenen“ Briefe an ein Kind gerichtet sind, an das Töchterchen des Schauspielers Kurt Horwitz, das „liebe Ruthchen“ („von Deiner Freundin Else Lasker-Schüler“), und daß die Herausgeberin der beiden Bände, Margarete Kupper, mit Auswahl, Anordnung und Anmerkungsapparat bewundernswerte Arbeit geleistet hat.

„Ich schreib Ihnen das nur, Herr Minister“, heißt es in einem Brief an den damaligen (1930) preußischen Kultusminister Grimme, „da ich nicht nur so einen üblichen ^ ->f schreiben möchte an Sie... Ic' in kein üblicher Mensch.“ Und das ist wahrhaftig das mindeste, was sich über Else Lasker-Schüler sagen läßt.

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