Ich erlebe, also lerne ich

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Wie die Sommerferien gestalten? Sollen sich Kinder und Jugendliche einfach nur erholen und ungezwungen in der Natur herumtollen? Oder schulische Lerninhalte wiederholen? Lustvolles Erleben mit allen Sinnen ist gefragt. Ein Plädoyer für mehr Frei- und Erlebnisräume.

Das Schuljahr geht seinem Ende zu, Kinder, Lehrer und Lehrerinnen und Eltern hängen wohl immer öfter kleinen Tagträumereien nach mit Bildern von rollenden Wellen, plätschernden Bächen oder abenteuerlicher Wildnis. Entspannung und Erholung sind in den Ferien angesagt.

Für eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern wird die Vorfreude auf diverse Aktivitäten in den Ferien getrübt sein von der Tatsache, im Herbst eine Prüfung wiederholen zu müssen, die Zeit wird also eingeteilt werden in "Lernzeit" und "Freizeit". Zahlreiche Veranstalter sind sich dieses Klientels wohl bewusst und bieten kombinierte Angebote - so genannte Lerncamps - an, in denen Schülerinnen und Schüler sowohl auf diverse Nachprüfungen vorbereitet werden und gleichzeitig ihre Freizeitgestaltung in organisierende Hände gelegt wird.

Lernen mit Kopf, Herz und Hand

Gehen wir nun diesem Begriff des unbeliebten "Lernens" in den Ferien etwas genauer auf die Spur, fragen wir uns, ob damit wirklich nur der intellektuelle Bereich, der Erwerb von "Lehrplanwissen", gemeint sein kann. Wenn Hartmut von Hentig behauptet, die Schule fühle sich für die erste Hälfte des Tages und die obere Hälfte des Menschen verantwortlich, so beschreibt dieses Bild eine relativ kopflastige Version von Lernen. Zur Beruhigung besorgter Eltern kann jedoch festgestellt werden, dass in der Bildungsinstitution Schule zahlreiche Formen des Lehrens und Lernens praktiziert werden, die den ganzen Menschen mit all seinen Sinnen ansprechen.

Lernen mit Kopf, Herz und Hand forderte bereits der Reformpädagoge J.H. Pestalozzi vor 200 Jahren und vertrat damit einen ganzheitlichen Ansatz von Bildung. Den Gedanken von Hentigs weiterverfolgend machen wir uns nun Gedanken über die zweite Hälfte des Tages, vielmehr noch - über all die Tage, an denen es keinen Unterricht gibt: während der Sommerferien. Wird hier das Lernen auch "in die Ferien geschickt", verändert sich der Wissensstand der Kinder nur insofern, dass sie viele mühsam erlernte Dinge über die Ferien vergessen, oder gibt es hier auch einen Zuwachs an Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen? Können wir unsere Kinder während der Ferien getrost herumtollen und spielen lassen oder sind wir als Erziehungspersonen dazu angehalten, sie zum Üben und Wiederholen von Lerninhalten zu "vergattern"? Wie ist das mit Ferienlagern - Indianer-, Theater-, Abenteuercamps -, was machen unsere Kinder da und ist das auch wirklich wertvoll?

Als Mutter zweier campbegeisterter Mädchen konnte ich feststellen, dass diese Art der Feriengestaltung unter Gleichaltrigen den Kindern Lernerfahrungen feinster Art beschert. Abgesehen von thematisch gebundenen Veranstaltungen, in denen das Programm einigermaßen festgelegt ist, hatten unsere Töchter im Rahmen mehrerer Programmangebote immer die Möglichkeit, ihre Stärken oder Talente auszuleben und weiterzuentwickeln. So inszenierte unsere ältere Tochter selbständig ein Theaterstück, liebevoll, je nach Bedarf, unterstützt von Betreuern, die gelernt hatten, loszulassen und aufmerksame Wegbegleiter zu sein. Kinder lernen dabei Organisieren, Rücksicht nehmen, Präsentieren, Durchhalten, Helfen, Argumentieren, in diesem konkreten Fall auch das Verfassen von Texten und Sprechen. Die angesprochenen sozialen Kompetenzen, die in der Wirtschaft als "Schlüsselqualifikationen" teuer gehandelt werden, erwerben die Kinder ganz nebenbei - im Spiel. An einem anderen Tag oder in einem anderen Camp stehen Wanderungen oder Spiele in der Natur am Programm. Kinder lernen durch den emotionalen Zugang zur Natur in Form von Spielen ökologische Zusammenhänge und biologische Details kennen - nebenbei, und nachhaltig. Motorische Fertigkeiten werden gefordert und geschult - nicht für alle Kinder ist das Gehen im weglosen Gelände problemlos. Während des Aufenthalts in Naturräumen werden die Sinne geschult, Ordnungen erfasst, Elemente erfahren und der Umgang mit Gefühlen wie Angst und Vertrauen thematisiert. Eine Nacht im Freien ermöglicht den Kindern außergewöhnliche Erlebnisse. In diversen Sportcamps werden die Fertigkeiten der betreffenden Sportart geschult und verbessert, hier sind Leistungsbereitschaft und Ausdauer von grundlegender Bedeutung. Das soziale Lernen wird durch das Zusammenleben vieler Individuen zu einem dauerhaften Thema - festgefahrene Rollen können neu definiert oder verändert werden. Fassen wir diese - exemplarisch angeführten - Lernoptionen eines Feriencamps zusammen, stellen wir fest, dass hier Lernen auf verschiedenen Ebenen stattfindet: inhaltliches Lernen (Kopf), soziales Lernen (Herz) und das Erlernen von Fertigkeiten (Hand). Es wird also einem ganzheitlichen Bildungsansatz Genüge getan. Da es oft schwierig ist, die schulische und familiäre Lebensumwelt der Kinder in ein derartiges pädagogisches Setting zu betten, stellen Ferienlager eine Einladung dar, Kinder einmal selbst lernen zu lassen. Zeitliche Freiräume können von den Kindern selbst gestaltet werden, eigenverantwortliches Gestalten von Zeitabschnitten muss erst geübt werden und stellt für manche Schüler eine erhebliche Herausforderung dar. Hier zeichnet sich ganz klar die Abgrenzung zu Animation ab, wie sie im herkömmlichen Tourismus meist geboten wird. Auf die Klage "Mir ist fad!" erfolgt nicht sofort ein Animations-Input, die Kinder sind dazu aufgefordert, sich auch mit sich und ihren Zeiträumen zu beschäftigen. Auch hier wird ein erhebliches Transferpotenzial in die Situation des Alltags bzw. in die spätere eigenverantwortliche Lebensgestaltung erkennbar.

Abgrenzung zur Animation

Da nicht alle Kinder gerne ohne Eltern unterwegs sind und es auch für Familien wertvoll sein kann, in ein völlig neues Lernumfeld einzutauchen, gibt es auch zahlreiche Angebote für Eltern mit Kindern. Für viele Eltern stellt es eine neue Erfahrung dar, Natur "auf Augenhöhe" mit ihren Kindern zu erfahren, gemeinsame Spiele zu spielen, mit und auch von den Kindern zu lernen.

Wenn wir uns daran erinnern, wie viel wir durch das selbständige Herumstreifen in der Natur sowie durch das Miteinander in der vielleicht noch größeren Geschwistergruppe gelernt haben, könne wir ermessen, wie wichtig diese Freiräume und Erfahrungen für unsere Kinder sind. Da unser Alltag meist gut strukturiert und organisiert abläuft, stellt es für Kinder (und Erwachsene) eine Bereicherung dar, mit allen Sinnen zu lernen - und das, ohne dabei das Gefühl zu haben, etwas "erarbeiten" zu müssen. Der Hirnforschung M. Spitzer stellte fest, dass Informationen, die in Zusammenhang mit Emotionen gespeichert wurden, längerfristig abgespeichert werden. Dieses lustvolle und nachhaltige Lernen sollten wir unseren Kindern - nicht nur während der Ferien - ermöglichen.

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