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Der Geiger Gidon Kremer beschreibt in "Zwischen Welten" seine Lehrjahre.

In Anton Tschechows "Drei Schwestern" war Moskau das ferne Ziel aller Sehnsucht. Die Schwestern konnten nicht wissen, dass im Sowjet-Reich die glückverheißende Hauptstadt zwar immer noch schwer zu erreichen war, dass sich dann aber für einen Künstler hier die Sehnsuchts-Ziele erst recht auftaten. Wenn er wirklich Karriere machen wollte. Der große russische Geiger Gidon Kremer, der Lette mit der deutschen Mutter, hat uns schon in mehreren Büchern Einblick in sein Leben gewährt. "Zwischen Welten" entstand aber unmittelbar nach der "Wende", daher mit viel größerer Offenheit des Berichtens und Bekennens.

Das Moskauer Konservatorium in der Klasse David Oistrachs besuchen zu dürfen, das war schon etwas. Aber natürlich kann sich ein Künstler, der Außerordentliches will, erst in der Auseinandersetzung mit der Welt-Elite beweisen. Also: Wettbewerbe im Ausland, dann Gastspiele und Tourneen.

Sorge um ein Quartier und viele Behörden-Wege: das war Sowjet-Alltag (und dürfte sich kaum geändert haben). Das mussten alle Bürger des Werktätigen-Paradieses durchmachen. Für einen jungen Künstler kamen viele Sorgen dazu, und sei es nur das Problem stundenlangen Übens in einer winzigen Wohnung mit dünnen Wänden.

Die Qual der Bürokratie

Wenn unter allen Schwierigkeiten die Spitzenklasse erreicht, wenn der alles entscheidende Tschaikowski-Wettbewerb gewonnen war, dann musste der nächste Schritt die Überwindung der Staatsgrenzen sein. Wir haben ja durch Jahrzehnte beobachten können, wie sich junge Künstler, auch junge Sportler aus Osteuropa angestrengt haben, um das Niveau für den Weg in die Welt zu erreichen. Dabei war die künstlerische Qualität zwar Voraussetzung, die eigentliche Qual jedoch die umständliche, sture, stets misstrauische Bürokratie. Gidon Kremer hat das alles gemeistert. Er bewältigte sogar die zusätzliche "Belastung", dass er sich immer wieder einmal in eine sehr junge Kollegin verliebte, sie gelegentlich sogar heiratete - was die Reise-Problematik wesentlich erschwerte. Kremer berichtet auch darüber in aller Offenheit (manchmal auch im Ton der landesüblichen "Selbstkritik"). Schließlich erfährt der Leser viel über Kollegen, über große Geiger, Dirigenten und andere Prominenz.

Was dabei erschüttert, ist das im System angelegte Misstrauen, das sich in alle zwischenmenschlichen Beziehungen schleicht. Aus der Sicht der Politik sollte dieses Misstrauen gegen alle verhindern, dass sich Opposition formierte. Im menschlichen Bereich wirkte es verheerend, wenn etwa ein Brief des allseits geliebten und verehrten Mstislav Rostropowitsch endloses Nachdenken auslöst, was er wohl gemeint haben könnte, wie er zum Empfänger des Briefes eingestellt ist.

Der Weg zur Weltkarriere

Gidon Kremer hat all diesen Widrigkeiten zum Trotz eine Weltkarriere gemacht. Man hat nicht nur seine Geige zu schätzen gelernt, sondern auch seine menschlichen Qualitäten, den Einsatz für Kollegen, vor allem zeitgenössische Komponisten. So kann er auch mit Stolz von vielen positiven Erlebnissen berichten. Trotzdem: Schmerzen nicht all die Umwege, die ein verrottetes System seiner Entwicklung aufzwang? Ist hier nicht ein Stück Lebenszeit sinnlos vergeudet worden? Kremer sieht es heute, fast ein Vierteljahrhundert nach der beschriebenen Zeitspanne eher positiv: "Ich grolle nicht", sagte er im persönlichen Gespräch. "Ich grolle nicht, dass ich so harte Zeiten erleben musste. Es war alles eine Herausforderung. In vielen Bereichen wurde ich behindert, frei zu atmen, frei zu gestalten, zu leben. Aber gerade diese Schwierigkeiten haben mir geholfen, einen Weg zu finden, den ich als meinen eigenen bezeichne."

Zwischen Welten

Von Gidon Kremer

Verlag Piper, München 2003

385 Seiten, geb., e 25,60

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