Ich habe genug gelebt

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César Airas Novelle über den Landschaftsmaler Johann Moritz Rugendas.

Der bayerische Saat besitzt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts 3000 Blätter des Landschafts- und Vegetationsmalers Johann Moritz Rugendas. Außerhalb der Kunst- und Expeditionsgeschichte ist dieser Name in Europa kaum mehr bekannt. Anders in Lateinamerika. Dort hat Rugendas (1802-1858), der aus einer berühmten Augsburger Künstlerdynastie stammte, in allen Nachschlagewerken seinen Platz gefunden. Zum erstenmal reiste er als Zeichner mit einer vom russischen Zaren finanzierten Expedition 1822 bis 1825 nach Brasilien. Die dokumentarische Ausbeute erschien 1827 in Paris unter dem Titel "Voyage pittoresque dans le Brésil". Sein Förderer war Alexander von Humboldt.

1831 brach Rugendas zu einer zweiten Erkundungsreise nach Lateinamerika auf, die ihn nach Mexiko, Chile, Argentinien, Peru, Bolivien, Uruguay und wieder Brasilien führte. Sie dauerte 15 Jahre. Der argentinische Schriftsteller César Aira veröffentlichte im Jahr 2000 ein Buch über Rugendas' zweite Reise, "Un episodio en la vida del pintor viajero". Diese Episode aus dem Leben des Reisemalers ist nun auch auf Deutsch erschienen: "Humboldts Schatten". Ein kluger Titel: Versucht doch der Argentinier zu zeigen, wie der einst berühmte Maler aus Humboldts Schatten heraustrat. Der Forscher hatte dem jungen Maler für seine zweite Expedition klare Ziele vorgegeben: "Ein großer Künstler wie Sie muss das Große suchen. Hüten Sie sich vor allem, was von diesem Zwecke abführt." Humboldt meinte, den Maler voll in seine Dienste stellen zu können. Das Exotische, "Palmen, baumartige Farnkräuter, Cactus, Schneeberge und Vulkane" sollten sein Sujet sein: "Hüten Sie sich vor den gemäßigten Zonen", warnte Humboldt in einem erhaltenen Brief an Rugendas. Der Maler tat es nicht. Und erlebte beim Vorstoß in die argentinische Pampa einen schlimmen Reitunfall. So weit die Fakten.

César Aira macht den Unfall zum dramatischen Höhepunkt seiner Novelle. Zwei Blitze treffen Ross und Reiter. In dem Augenblick, in dem Aira Fakten in Fiktion übergehen lässt, wird das Erzähltempo atemlos. Rugendas verliert durch den Unfall buchstäblich sein Gesicht. Der furchtbar Entstellte nimmt gegen die marternden Schmerzen Opium. Und zeichnet weiter. Aber nicht mehr nur die Vegetation, sondern Menschen. Weiße, die die unendlichen argentinischen Ebenen durchqueren, und Indianer, die Siedlungen der Weißen überfallen. Er ist durch den Unfall ein anderer geworden, mutiger, freier, herausgetreten aus dem Schatten des Übervaters Humboldt. Furchtlos begibt er sich schließlich eines Nachts zu den Indianern, um sie zu zeichnen: "Der Künstler in seiner Eigenschaft als Künstler durfte ruhig tot sein. Es war ein bisschen absurd, ihn schützen zu wollen." Rugendas will leben, doch nicht um den Preis enger Vorschriften. Er will so leben, dass er im Angesicht tödlicher Gefahr sagen kann: "Ich habe genug gelebt." Damit wird der historische Maler Rugendas zum Inbegriff des romantischen Künstlers, der er ja auch war.

Eine spannende Geschichte: Ein Deutscher, der Südamerika kurz nach der Befreiung von der spanischen Kolonialherrschaft bereiste, verkörpert für den südamerikanischen Autor den wahrhaft schöpferischen Menschen.

Humboldts Schatten

Novelle von César Aira

Aus dem argent. Span. von Matthias Strobel. Nachwort von Ottmar Ette

Nagel & Kimche Verlag, München 2003 122 Seiten, geb., Euro 15,40

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