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Ich seh5 die alten Häuser wieder

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Es fällt Regen an diesem Abend, als ich das Fenster meines Hotelzimmers in Amberg schließe. Um diese Zeit, das weiß ich, macht sich meine Frau Sorgen darüber, ob es nicht ein Wagnis ist, in die Tschechoslowakei zu fahren, nachdem man kurz vorher die Verhaftung eines sudetendeutschen Besuchers gemeldet und im bayrischen Rundfunk vom Besuch der Tschechoslowakei abgeraten hat. Aber ich fühle mich irgendwie im Schutze des internationalen Rechts und bin fest entschlossen, die Fahrt anzutreten, um Böhmen nach mehr als zwölf Jahren wiederzusehen.

Als ich am nächsten Morgen zum Autobus gehe, stehen zwar noch regengraue Wolken vor der Sonne, aber es bleibt trocken, und nach fünfviertelstündiger Fahrt bricht über dem duftenden Nadelwald der bayrisch-böhmischen Grenze zwischen den Zollämtern Weidhaus und Roßhaupt/Rozvadov die Sonne durch.

*

Die Autostraße, die an dieser Stelle den internationalen Verkehr in die Tschechoslowakei einschleust, ist gut. Randsteine und Orientierungstafeln sind sauber. Die unmittelbar an der Straße stehenden Häuser sind leidlich instandgesetzt, manche sogar frisch gestrichen. Aber schon die der Straße nicht zugekehrten Gebäude lassen den Verfall erkennen. Vereinzelt holzverschlagene Fenster, durchhängende Dächer, abbruchreife Bauernhäuser. Die Felder, zumindest in Sichtweite der Straße, halbwegs bestellt oder abgeerntet. Der Verkehr sehr schwach, einzelne Fahrzeuge museumsreif.

Dann fällt mir die Tafel auf: „Vitame Vas v Marianskych Laznech (Marienbad)“, was sich vor Karlsbad wiederholt.

Interessant ist nur die Klammer.

Sie scheint nolens volens zuzugeben, daß nur die alten Bezeichnungen der weltberühmten Kurbäder für den internationalen Verkehrs aus dem Westen Bedeutung haben und man bei Amerikanern, Engländern und Franzosen einfach ohne Deutsch nicht auskommen kann.

Ich gehe mit weitaufgerissenen Augen und ernstem Blick durch die Straßen meiner Heimatstadt Teplitz-Schönau. Marktplatz, Königstraße, Theater, Lindenstraße. Ueberau Erinnerungen. Ich stehe vor der Schule, in der ich maturiert habe, und bin in der Kirche, in der ich vor fünfzehn Jahren getraut wurde. Die Stadtkirche wirkt unbetreut.

Oft höre ich deutsch sprechen; es sind zumeist alte, ärmlich gekleidete Menschen, die, wie mir scheint, untereinander so etwas wie den Zusammenhalt der Katakombenchristen haben mögen. Auf dem menschenleeren Friedhof stehe ich vor dem Grab meiner Mutter. Ringsum verrostete Kruzifixe, verwitternde Einfassungen, abbröckelnde Mauern, dann hier und da ein frisches Grab eines tschechischen Neusiedlers, viele der Zeit zum Trotz goldglänzende Marmorgravierungen.

Zweihundert Meter vom Grab weiter sehe ich in die Tiefe des bis an die Friedhofsmauer bereits ausgeschachteten Braunkohlentagbaues. In ununterbrochenem Einsatz rollen hier die Loren und die Lkw.-Kipper zum Bagger vor, um die Kohlen abzufahren. Vielleicht noch einige Monate, und der obere Rand des Friedhofs wird den Krallen der Bagger und dem Kohlenabbau zum Opfer gefallen sein.

Der in der Nacht bei Scheinwerferbeleuchtung geradezu mit Hast vorangetriebene Abbau hat die Luft durch den Kohlendunst schon so verschlechtert, daß in den Septembertagen eine Regierungskommission aus Prag untersuchte, wie

der bereits in Mitleidenschaft gezogene Wald des Erzgebirges noch geschützt werden kann. Die Natur duldet keinen Raubbau, sie rächt sich.

„Wie gefällt es Ihnen bei uns jetzt?“ fragt mich in akzentfreiem Deutsch eine etwa 35jährige Frau eines in höherer Stellung arbeitenden Tschechen. Vorsichtig antworte ich auf diese, mich etwas frappierende Frage und gerate dabei ohne Grund ins Tschechische.

„Es hat sich sehr vieles geändert.-“

Meine intelligente Gesprächspartnerin lächelt und greift dann senkrecht an.

„Möchten Sie wieder zurückkehren, um hier zu leben?“

Ich bin nicht gefaßt, weiche ins Unverbindliche aus, komme dann aber mit der Gegenfrage: „Ich habe noch, nicht genug gesehen, um diese Frage zu beantworten. Wünscht man denn eine Rückkehr der Deutschen?“

„Ale, ton ne — Nein, das nicht!“ erwidert die Tschechin.

Damit ist das Thema beendet, das Gespräch wendet sich dem zehnjährigen Buben zu, den sie an der Hand hält.

Seither denke ich oft an dieses Gespräch. Es bringt* wohl die Grundeinstelluhg der Tschechen den Sudefendeutschen gegenüber zum Ausdruck. Menschliches Interesse, ja — politisch jedoch hält man das Problem für erledigt.

Oft frage ich mich bei der Erinnerung an das Gespräch mit der Tschechin, wie man ein Volk überzeugt, daß es unrecht hat und daß etwas Ungeheures wiedergutgemacht werden muß. Was lehrt uns die Massenpsychologie und was erreicht man durch Aufklärung?

Manchmal lasse ich die Gedanken schleifen und glaube, wir müßten bei einer gemeinsamen Zukunft in Böhmen bis in die Kleinstadt hin-

unter die „Deutsch-Tschechische Gesellschaff gründen, um nach dieser heillosen Entfremdung die beiden Nationen des Zweivölkerlandes Böhmen wieder zusammenzuführen.

*

Strahlender Sonnenschein liegt über dem Altstädter Ring in Prag, als ich über die Pariser Straße und die frühere Svatopluk-Cech-Brücke hinweg auf das Stalin-Denkmal schaue, zu dem ein Zickzackaufgang führt. Fast bin ich versucht, aus Neugier meine Schritte dorthin zu lenken, dann aber pilgere ich doch lieber auf dem Kurs Parlament, Klementinum, Karlsbrücke zu St. Veit über dem Hradschin.

Das Stalin-Denkmal zeigt den Generalissimus, hinter ihm einige „Werktätige der Stirn und Faust“ und einen Rotarmisten. Auf der hinter dem Denkmal gelegenen Fläche hat man einen großen Paradeplatz angelegt, auf dem die Aufmärsche von Partei und Staat stattfinden. Während jedoch die Denkmalvorderseite, vom Altstädter Ring und vom Moldauufer her gesehen, für naive Gemüter etwas Kolossales haben mag, bietet die Denkmalrückseite, vom Paradeplatz her gesehen, bestimmt nichts Imponierendes denn es sind eben nur die Rückenpartien von Stalin und Genossen. Der robuste Volkswitz hat daher dem ganzen Paradegelände eine ebenso einfache wie drastische Bezeichnung gegeben: „Za prdeli“, zu deutsch „Hinter dem Hintern“. *

Die Rückfahrt wird vom Hotel „Palace“ aus in der Herrengasse am Sonntag um halb zehn Uhr angetreten. Ich gehe nach dem Frühstück in die nächstgelegene Kirche in der Heinrichsgasse, die zum Wenzelsplatz führt. Zu meiner größten Ueberraschung erkenne ich den alten Pfarrer \mi geistlichen Herrn wieder, der mir an manchen Sonntagen meiner Prager Studentenzeit wegen seiner temperamentvollen Beredsamkeit aufgefallen war, als ich dort vorbei den Weg zum Cafe „Fenix“ auf dem Wenzelsplatz nahm. Der alte Herr ist jetzt gebeugt, sein Haar ist schneeweiß, aber seine Predigt ist lebhaft wie eh und je. Ich traue meinen Ohren kaum, als er mit erhobener Stimme die tschechischen Eltern auf ihre katholischen Pflichten gegenüber den Kindern aufmerksam macht, jetzt, da die Kinder keinen ausreichenden Religionsunterricht in den Schulen bekämen und die Lehrer oft das gerade Gegenteil den Kindern beibrächten. Die ganze Verantwortung ruhe jetzt auf dem Elternhause, das um die Lehre des Evangeliums und um den Besuch der Kirche besorgt sein müsse.

Ich: bin etwas verwirrt, als der Mann mit dem Klingelbeutelkommt, ich kann die tschechischen und deutschen Münzen in meinem Portemonnaie nicht schnell genug unterscheiden und werfe prompt eine D-Mark hinein, dann gehe ich zum Hotel zurück.

Nach dreieinhalbstündiger Fahrt und einer ausgesprochen lässigen Kontrolle durch die tschechischen Zolbeamten sind wir wieder auf deutschem Boden.

Die bayrischen Zollbeamten lächeln und wünschen eine gute Heimkehr.

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