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Idi verfiel der Autosuggestion

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Ort der Handlung: Ein Bezirksgericht in Wie Zeit der Handlung: Jänner 1960. Personen der Handlung:

Ein Bezirksrichter,

ein Angeklagter,

ein Rechtsanwalt,

ein Staatsanwalt.

Bezirksrichter: Herr Angeklagter, Sie werden beschuldigt, am 15. November 1959 folgende Vergehen begangen zu haben: Sie sind mit Ihrem Personenkraftwagen, den Sie selbst steuerten, am genannten Tag um 17.30 Uhr von der Habsburgergasse kommend in den Graben eingebogen. Hierbei übersahen Sie das Haltezeichen des dort postierten Verkehrspolizisten, und als derselbe Sie darauf ernstlich ermahnte, haben Sie mitten auf der Straße Ihren Wagen verlassen, um den Polizisten gröblichst zu beschimpfen. Sie haben damit das Delikt der Amtsehrenbeleidigung begangen, das immer schwer ist, wenn es an einer Amtsperson begangen wird, die im Dienst ist. Außerdem haben Sic, da Sie Ihren Wagen verneßen, eine“senwere Verkehrsstörung hervorgerufen, die sich bis zur Opernkreuzung auswirkte und fast einige Unfälle verursachte.

Herr Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?

Angeklagter: Ich bekenne mich schuldig.

Bezirksrichter: Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung anzuführen?

Angeklagter: Hohes Gericht, ich habe gesagt, daß ich mich aller Delikte schuldig bekenne, die mir zur Last gelegt werden. Ich bekenne mich darüber hinaus auch eines Deliktes schuldig, das den Urgrund aller meiner hier angeführten Vergehen bildet und wahrscheinlich auch in Zukunft bilden wird, wenn das Hohe Gericht mir nicht helfen wird.

Hohes Gericht I Ich bekenne mich schuldig, der Auto-Suggestion verfallen zu sein.

Vor dreißig Jahren war ich ein glücklicher Mensch. Ich ging zu Fuß oder fuhr per Straßenbahn in mein Büro und erledigte auch sonst alle meine Wege auf diese Weise. Plötzlich aber packte mich der Teufel. Ich war durch meinen Fleiß auf meiner beruflichen Leiter rasch emporgeklettert, und plötzlich glaubte ich, es mir und meiner Familie schuldig zu sein, ein Auto besitzen zu müssen. Ich redete mir ein, daß ein moderner Mensch ein Auto besitzen müsse, erst dann wäre er wahrhaft vollkommen. Ich redete mir außerdem ein, daß ich durch den Besitz eines Autos sowohl viel Zeit als auch viel Geld ersparen würde können und meine Nerven weniger beanspruchen müßte. Außerdem bildete ich mir ein, durch den Besitz eines Autos in die Lage zu kommen, mit meiner Familie viel mehr beisammen zu sein, da wir jeden Sonntag gemeinsam Ausflüge machen würden.

Hoher Gerichtshof! Meine Ueberlegungen erwiesen sich bald als völlig falsch. Durch den Besitz eines Autos wurde ich in eine Hetzjagd sondergleichen gepreßt, da ich mir einredete, daß ich mit Hilfe des Autos an allen möglichen Tagungen, Veranstaltungen, Sitzungen, Konferenzen, Cocktailparties usw. teilnehmen könnte. Die stets fortschreitende Motorisierung — jeder sechste Oesterreicher ist bereits in irgendeiner Form motorisiert — macht das Autofahren aber immer mehr zu einer Qual. Ich habe überhaupt keine Zeit mehr. Um rechtzeitig ins Büro zu kommen, muß ich viel früher von zu Hause wegfahren als einst, da ich die Straßenbahn benützte. Denn wohl lege ich die Strecke zwischen Wohnung und Büro rasch zurück, aber dann muß ich oft eine halbe oder eine Dreiviertelstunde einen Parkplatz suchen. Ebenso muß ich, wenn ich zu einer Sitzung fahre, jetzt viel früher losfahren, da ich ewig in der Sorge bin, keinen Parkplatz zu finden. Fragen Sie nicht, was ich mitmache, wenn ich zwischen 5 und 6 Uhr nach Hause fahre. Dieses ewige Im-Schritt-Fahren, dieses ewige Schalten, dieses ewige Stehenbleiben und dann wieder ein paar Meter fahren, das Ansehenmüssen, wie undiszipliniert die Fußgeher sind oder wie schlecht manche Autobesitzer fahren, das reißt an meinen Nerven. Seitdem ich ein Auto besitze, habe ich überhaupt keine Zeit mehr, und meine Nerven sind endgültig kaputt.

Mit meiner Familie bin ich noch weniger beisammen als sonst. Denn kaum hatte ich ein Auto, wollten alle Familienmitglieder damit fahren, natürlich nicht gemeinsam, sondern jeder für sich. Es blieb mir nichts übrig, als meiner Frau und meinen Kindern je ein kleines Auto zu kaufen, mit dem nun jeder seine Wege fährt. Von der Familie sehe ich jetzt kaum noch etwas, außer den Rechnungen iür die diversen .Autorepijauggaj;; -iiä<^$$&M&$B&&

Hoher Gerichtshofs Das SAeekliche'att die-sem Zustand ist, daß ich mich von meinem Auto nicht befreien kann. Ich bin ihm verfallen, mit Ketten daran gebunden. Ich bin direkt autosüchtig. Hoher Gerichtshof! Helfen Sie mir aus meiner Situation. Machen Sie von Ihrem außerordentlichen Milderungsrecht Gebrauch. Verurteilen Sie mich nicht zu .einer Woche Arrest bedingt, sondern zu einem Jahr unbedingt. Schütteln Sie nicht den Kopf, Herr Oberlandesgerichtsrat, ich spreche nicht irr, sondern völlig normal. Denn nur, wenn Sie mich ein Jahr in ein Gefängnis einsperren, werden Sie mich von meiner Auto-Suggestion befreien.

Was geschieht denn, wenn Sie mich zu einer derart hohen Strafe verurteilen? Aeußerlich zunächst gar nichts. Denn ich bin auch bis jetzt immer nur „gesessen“. Mein Leben besteht darin, daß ich mich in der Früh in das Auto stürze und ins Büro fahre, wo ich stundenlang sitze, um dann wieder in mein Auto zu stürzen, um in demselben neuerlich stundenlang zu sitzen. Fast alle Menschen verbringen heute ähnlich ihr Leben, indem sie nur noch „sitzen“. Kein Mensch benützt mehr seine Beine zum Gehen, wozu sie doch in erster Linie geschaffen sind. Rolltreppen und Aufzüge machen das Gehen auch dort überflüssig, wo man mit einem Auto nicht mehr fahren kann.

Seit Jahren bin ich ununterbrochen in Bewegung und sitze dennoch. Ich bin der typische Beweis, daß die Relativitätstheorie richtig ist.

Das Automobil macht mich zu einem homoimmobil. Mit Luther und Galilei kann ich, etwas abgewandelt, sagen: Hier sitze ich, ich kann nicht anders, aber ich bewege mich doch. Wenn Sie, hochgeehrter Herr Oberlandesgerichtsrat, mich einsperren, würde sich äußerlich an meinem Lebenszustand nichts ändern. Denn ich werde „sitzen“ und gleichzeitig im Gefängnis auf und ab gehen.

Aber dennoch würde sich mein Zustand wesentlich ändern. Ich wäre zwar äußerlich meiner Freiheit beraubt. Aber innerlich würde ich sie wiedergewinnen. Ich werde einen großen Raum der Freiheit, den ich sowieso nicht besitze, verlieren, aber einen kleinen sicheren, wo* ich wieder Mensch sein kann, gewinnen. Denn ich werde im Gefängnis etwas haben, was ich jetzt in der Freiheit nicht mehr habe: ich werde Zeit haben. Vor 50 Jahren sagte man, Zeit sei GeH. Heute dagegen kann man sagen, Zeit ist Luxus. Alles andere ist wirklich kein Luxus mehr, weder der Besitz eines Autos noch eines Hauses no-h eines Fernsehapparates. Nur Zeit zu haben, das ist ein Luxus. Ein Mensch kann man aber nur sein, wenn man Herr über seine Zeit ist.

Und ich werde im Gefängnis Zeit haben. Sßhün allein der Gedanke, daß ich in einer Zelle sitzen wertes die kein Telephon besitzt, macht mich glücklich. Während ich jetzt kaum Zeit habe, die Hunderte von Briefen, die ich täglich erhalte, zu überfliegen, und sie nur beantworten kann, indem ich sie meinen Sekretärinnen weitergebe, wird jeder Brief, der mich erreicht, ein Erlebnis sein. Während ich jetzt den Inhalt der Zeitungen nur dadurch erfassen kann, daß ich ihre Ueberschriften lese, wird für mich im Gefängnis die Lektüre der einzigen Zeitung, die einem österreichischen Häftling gestattet ist, zu lesen, nämlich der „Wiener Zeitung“, ein Hochgenuß sein. Während ich jetzt überhaupt keine Zeit mehr habe, Bücher zu lesen, und diese mit noch auf Geschäftskosten kaufe, um sie als Kundenwerbung weiterzugeben, werde ich im Gefängnis mit Genuß die abgenützten Werke der Gefangenhausbibliothek durchstudieren. Was wird gar für ein besonderer Festtag der Besuch meiner Familie für mich sein! Jetzt bin ich mit meiner gesamten Familie höchstens am Heiligen Abend beisammen, “und da tet schon jeder erschöpft von den' Vorbereitungen auf das Fest oder die kommende Wintersportreise. Im Gefängnis werde ich mich aber auf den Besuch jedes Familienmitgliedes tagelang vorher freuen, jedes Wort, auch das belangloseste, wird für mich von Wert sein.

Hohes Gericht! Machen Sie mich wieder zu 'einem Menschen, indem Sie mich von der Auto-Suggestion befreien. Verurteilen Sie mich zu mindestens einem Jahr Gefängnis unbedingt.

Der Bezirksrichter, nachdem er noch die Plädoyers des Staatsanwaltes und des Rechtsanwaltes angehört hat, verkündet das Urteil: Angeklagter, Sie werden zu einer Woche Arrest bedingt verurteilt.

Der Angeklagte bricht weinend zusammen und stöhnt: Gnadenlose Justiz.

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