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Im Andenken an Gerhart Hauptmann

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Ein reiches Leben und schöpferisches Dasein trägt in sich selbst Geduld über alle Mißverständnisse und zeitliche Bedingtheiten der Auffassungen. Ein hohes Alter des Menschen bewirkt Abstand zu sich selbst und nähert die eigenen Einsichten und den Begriff des eigenen Lebens mehr und mehr dem Gleichnishaften der Existenz.

Je größer und umfangreicher Werk und Leben eines Menschen ist, desto liebender und ichsüchtiger das Begehren, daß es unser Herz völlig und ohne Mißverständnis darstelle, daß es mit unserer Zeit gänzlich, und doch in den Grenzen unseres Be-greifens, mitgelitten habe. Mißverständnisse haben sich an Gerhart Hauptmanns Namen geknüpft. Man hat von ihm Nähen und Deutlichkeiten zu der Zeit des Nationalsozialismus verlangt, wie man sie in den Gestalten seiner Weber, seines Fuhrmann Henschel, seines Hannele, selbst noch in dem Märchen von der versunkenen Glocke zu erleben sich gewöhnt hatte. Und dennoch hat er das Mitleiden, das ihn jeder Kreatur, ihrer Hinfälligkeit wie der inneren Macht ihrer Phantasie verpflichtete, niemals als Bedingungslosigkeit seines schöpferischen Gestaltungszwanges verloren. Nur wurde Einsicht und Darstellung umfassender, führte von der Zeit und Individualität zunehmend weg ins Gleichnishafte. Je mehr der Mensch leidend mitlebt, desto dringender bedarf er der Distanz. Abstand schaffen von sich selbst ist in der Kunst gleichwirkend dem Vorgang, das wahre Verhältnis der Dinge und Menschen, ihr inneres und wahrhaftes Dasein nicht einzig in ihrem zeitlichen Verhältnis zu uns erblicken zu wollen.

Wie dem auch sei — Mißverständnisse lassen sich kaum durch allgemeine Einsichten, noch weniger jedoch durch allgemeine Urteile beheben. Einem unendlich reichen und zum Erleben stets bereiten, für die Vielfalt des Menschentums empfänglichen Dasein gegenüber sind Urteile und Einsichten immer Beengungen. Es genügt, daß seine Gestalten in ihrer Vielfalt neu und immer wieder die unbestechliche Kraft ihrer Gegenwart und Wahrhei' entfalten, und es kann nicht fehlen, daß unser Empfinden uns vorsichtiger, aufmerksamer und wacher im Urteil und Verstehen, geneigter zu Liebe und Mitleid wird. Der Dichter wird zu Glück und Gabe immer nur dem einzelnen begegnen. Jeder, welcher aus dem Schatz seiner Erinnerungen an Begegnungen mit Gerhart Hauptmanns Menschen und Gestalten schöpft, wird bald des kostbaeen Reichtums inne, welcher der Dichtung in deutscher Sprache auf die Dauer zu eigen geworden ist. Sein Werk wird die Auslegungen und Beurteilungen überdauern. Es wird wie alles, das vielseitiger Wirkung aus seiner inneren und dichten Vollkommenheit fähig ist, neues Auffassen wie neues Empfinden und neues Verstehen in anderen Zeiten hervorzurufen fähig sein.

Dem inneren Gesetz der Plastizität folgend, hat der Dichter unablässig seine Gestalten geschaffen und hat mit ihrer Allseitigkeit (welche nach Rudolf Hildebrands Worten da? Gesetz der plastischen Erscheinung der Gestalten ist) auch ihrem Dasein die ständig der Wahrnehmung und Darstellung sich erneuernde Fähigkeit von Gegenwärtigkeit und Eindringlichkeit verliehen. Nicht anders könnte man den Zug des Dichters zu dramatischer Gestaltung der Menschenschicksale bestimmen als vorwiegend aus plastischer rundführender und vielseitiger Anschauung seiner menschlichen Gestalt. Das macht die Vollkommenheit ihres Daseins, das in allen möglichen Verhältnissen mit gleicher innerer Spannung miterlebt wird. Die menschliche und körperliche Dichte ist bis zu höchster Intensität ständig gewahrt, aber der Geste des Schauspielers ist über die von der Handlung bestimmte Einzelheit hinaus jene schöpferische Vielseitigkeit möglich, welche so viele hochbegabte Schauspieler zur reichsten Entfaltung ihrer Begabung gebracht hat und so viele unvergeßliche Darstellungen der Bühne schuf. Wien kann die beglückend-sten Erinnerungen aufzählen. Seit im Jahre 1891 der 29jährige Dichter seine erste Aufführung mit dem Schauspiel „Einsame Menschen“ im Burgtheater fand, wurde eine Verbindung zwischen dem Dichter und Wien geschaffen, welche nie mehr abriß. Unerschöpflich und fruchtbar wie der .einmal geschaffene Typ der Natur brachten die Dichtungen des Dichters, immer wiederkehrend, durch verschiedene Generationen der Schauspieler aufblühend, uns Frucht der Nahrung und Glück des Genusses Schauspieler verwandelten sich in seine Geschöpfe, um von ihnen der dankbaren Erinnerung bewahrt zu werden Namen wie Hugo Thimig, Sonnenthal und Kainz sind für manche an unvergeßliche Eindrücke der Dichtung Hauptmanns geknüpft.

Das Soziale des Dichters ist, nicht weniger wie das jedes andern Sterblichen, seine Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist gleichsam das existenzielle Minimum oder die unumgängliche Voraussetzung, daß ein menschliches Dasein überhaupt in irgendeiner Beziehung sozial genannt werden kann. Man wird wahrscheinlich Gerhart Hauptmann in die Tradition des deutschen Humanismus einreihen. Was er jedoch der sittlichen Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit des deutschen Humanitätsideals dauernd neu hinzugefügt hat, möchte ich eben jene soziale Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit des Menschenbegriffes nennen. Anschaulich und unmittelbar ergreifend ist dies in vielen und erschütternden Gestalten Doch ist der Dichter dieser Wahrhaftigkeit der sozialen Existenz des Menschen nicht weniger und nicht minder innig im Erleben und Erleiden verbunden gewesen in Darstellungen, die heute sehr wahrscheinlich großen Mißverständnissen unterliegen. Das Relief der Gebärden und die Plastik der menschlichen Natur in der Stille und Lautlosigkeit ewigen Griechentums zu schildern, wurde dem Dichter zunehmend Bedürfnis. Er folgte damit der Tradition der klassischen deutschen Dichtung. Aber bereichernd und unmittelbar bestätigend im Antrieb zu solchen Gestaltungen, wie sie in den Iphigenien Höhepunkte darstellen, war gewiß einesteils jene Umwertung des-Griechentums, wie sie von Burckhardt an in der Betrachtung der Geschichtschreiber das Bild des „heiter Schönen“ im Griechentum in eine Vorstellung von Trauer, ja selbst Grausamkeit als Grund aller „schönen“ und „heroischen“ Haltung gewandelt hat. Hinzu kam die eigene Zeit.

In der Wahrhaftigkeit und gerade in dem Ausmaß seiner sozialen Existenz, „in seiner inneren Pluralität“ (Novalis) hatte sich der Mensch als hinfälliger erwiesen als jemals in der menschlichen Geschichte. Die durchdringende Wahrheit, daß der Mensch Gemeinschaftswesen bis in den letzten seelischen Bereich seines Bewußtseins ist, hatte erst jene Ermüdung an Bewußtsein und jenes hemmungslose Zulassen des Unbewußten geschaffen, darauf sich die Hingabe des einzelnen an Macht und seine Selbstvergessenheiten in Bemächtigungen seiner Seele gründeten. Gcrhart Hauptmann hat sich dieser Wahrheit der sozialen Existenz des Menschen wohl nur in die letzten und schwersten, auch für ihn leidvollsten Konsequenzen gestellt, als er seine schönsten, späten, aber heute noch mißverständlichen Werke schuf. Ein Ausmaß des Erlebnisses, das selbst sich in vielen Schichten und Dichtungsvorgängen der deutschen Vergangenheit einwurzelt, ist zur Anschauung und Gestalt gebracht, welches gleichberechtigt der sozialen Wirklichkeit und Wahrheit der Weber, des Fuhrmanns Henschel, der Rose Bernd einst zu den heilenden Kräften der deutschen Selbstbesinnung zählen wird.

Wir haben oft die Erinnerung und die ewige Gegenwart der besten Werte deutsch-spradiiger Kultur gebraucht und haben diese ebenso aus der Gelassenheit Jakob Burck-hardts wie aus der Musik Mozarts, Beethovens, den Dichtungen Grillparzers und Goethes entnommen. Noch wichtiger war jedoch fast, wenn eine lebendige Stimme, und sei es auch nur verhüllt, sich zu den ewigen Werten mit neuen furchtbaren Einsichten in dem Ringen um Trost und Wahrheit hinzuzufügen suchte. Wenn Grillparzers „Bruderzwist im Hause Habsburg“, seine „Libussa“, Offenbarungen gleich, uns immer wieder trösteten, dann aber nicht minder stark jene zwei unglaublichen Stücke des alten Hauptmann um die Iphigenie, die das Burgtheater brachte und welche Maria Eis und Baiser unvergeßlicher machten.

Vielleicht ist man, da man von Beginn in der Überzeugung der kommenden Katastrophe des deutschen Volkes lebte und von Anfang sich wie eine Pflanze mit jeder Wurzelfaser in den wahren Boden des Daseins zu klammern suchte, empfindlicher und dankbarer für solche Werte, wie sie als einziger deutscher Dichter Hauptmann in den obengenannten Stücken geschaffen hat.

Wir haben alle in Angst gelebt. Aber man lebt nicht jahrelange Uberwindung der Angst und Freiheit von Furcht endlich einzig und allein aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft der vielen, die mitgelitten haben, die vor dieser grauenhaften Zeit waren und nach ihr sein werden, aus Kräften anderer, die uns geholfen haben, weil sie die Versuchung zur Vernichtung in der menschlichen Seele erkannt haben, diese Vernichtung, die so nahe und verlockend an die Selbstvernichtung wie an ein Glück der Selbstvergessenheit grenzt. Und wie sehr war dies deutsche Versuchung und deutsche Erfahrung schon vor dem Nationalsozialismus! Gibt es eine seligere Verantwortungslosigkeit, eine mächtigere Ohnmacht der Seele und Unbedingtheit als Selbstvergessenheit? Wie ähnlich sind sich doch Führer und Geführte! Alle die vielen, welche der glücklichen Versuchung der Umstände, welche sie als Nichtschuldig gelten lassen, erliegen, bewahren den Krankheitskeim dieser furchtbaren Seuche, gleichen selbst Krankheitsträgern, welche die Wahrheit der sozialen Existenz jedes einzelnen nicht erkannt haben.

Bis in die feinste Faser unseres Wesens mag Gewissen Selbstsucht sein. Es ist viel Gewissen gegen sein Volk wenn ein Mensch sich selbst in dieser Zeit gesucht hat und wenn er bis ins Tiefste über das Mögliche seiner Natur als einer Wirklichkeit der Wahrheit erschüttert war. Nicht das Schwinden einer aktuellen und benannten Krankheitserscheinung ist das Gesunden, sondern das Wissen um Art und Wesen des Krankens der Menschennatur ist beginnendes Gesunden.

Es gibt viele und bedeutende Dichter unserer Zeit, welche gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben und dennoch geistig und seelisch in ihrem Dasein wie in ihren Werken seine Vorbereiter gewesen sind. Welcher moderne Dichter — und mancher ein Opfer Hitlers — hat nicht das Unbewußte, die Kraft des Chaos, hat nicht Glüdc und Hingabe an Mäditigkeiten der Seele oder Sinne, die uns zur Selbstvergessenheit erlösen, verherrlicht? Es ist nicht abzusehen, ob nicht Unglaube und die Verzweiflung am Menschen, tällich und immer noch durch Erfahrungen sich neu gründend, fortfahren muß mit der Unrast des suchenden Verlangens, sich und andere, gleichsam durch Qual, auf ein Letztes und Unbedingtes zu begründen. Der Begriff der sozialen Wirklichkeit hat sich unter Hitler zu Mißbrauch und Verschleierung aus der Seelenlage des einzelnen, seiner Anfälligkeit zu irgendeinem „Sozialen“, gewandelt.

Zu den großen Hoffnungen und dauernden Reichtümern eines Volkes gehören die Welten der Wahrheit, welche unbestechlich durch das Mitleben und Mitleiden der Dichter geformt, anschaubar und jederzeit der Vergegenwärtigung fähig, geschenkt worden sind. Heute schon wird jeder etwas Gerhart Hauptmann zu danken finden. Ich danke ihm sehr in den Iphigenien die bisher einzigen großen deutschen Dichtungen des Schuldgefühls und des Mitleidens in der Schuld. Eine Welt der Erfahrung und der Klärung ist noch in die Zukunft hinein uns helfend von dem toten Dichter bereitet. Ich glaube, wir werden über das letzte Jahrzehnt seiner Stille hinaus noch sehr Erstaunliches und Tröstliches aus seinem nun zur Ewigkeit des Todes gewordenen Schweigen heraus erfahren.

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