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Im Labyrinth der Tangometropole

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Buenos Aires war und ist Einfallstor für die Einwanderer nach Südamerika. Ihre Nationalitäten prägen das Gesicht der Stadt.

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Buenos Aires war und ist Einfallstor für die Einwanderer nach Südamerika. Ihre Nationalitäten prägen das Gesicht der Stadt.

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Während in Europa die Kulturförderung mehr und mehr schrumpft, erwacht in den neuen wirtschaftlich stabilen Demokratien Lateinamerikas allmählich das Bewußtsein für die kulturellen und künstlerischen Werte der nationalen Identität. Eine spezifische Mexikanität, Brasi-liade oder Argentinität wurde in den vergangenen Jahrzehnten in lateinamerikanischen Intellektuellenkreisen auf allen Ebenen intensiv herausgearbeitet.

Der argentinische Staatssekretär für Kultur, Jose Maria Castineira de Dios, der selbst Dichter ist, macht das Problem anhand seiner eigenen Herkunft deutlich. Abstammend von eingewanderten Galiziern, geboren in Ushuaia, im äußersten Süden des lateinamerikanischen Kontinents, wuchs er unter Galiziern auf, pflegte familiäre Bande und Gebräuche der fernen Heimat, ging in das spanische Theater und fühlte sich erst später im Erwachsenenalter richtig als Argentinier. Seine Kinder haben dieses spanische Umfeld so nicht mehr kennengelernt und sind schon von Anfang an selbstbewußte Argentinier.

Jede echte argentinische Vorgeschichte beginnt mit einer Atlantiküberfahrt. Flüchtende Juden aus der Ukraine, italienische Tagelöhnersippen, verarmter französischer Landadel, vertriebene Wolgadeutsche oder Ströme gesellschaftlich ausgegrenzter Familien der iberischen Provinz suchten einst ihr Glück in der Neuen Welt. Jeder argentinische Neuanfang begann in Buenos Aires, wo die

Schiffe im Hafen anlegten und die vielen noch orientierungslosen Menschen einfach ihrem Schicksal überließen. Gauner- und Ganovenweisen erzählen von den bizarren Verhältnissen, die auf die Neuankömmlinge warteten. In den Kaschemmen des Hafenviertels von La Boca wurde Anfang des Jahrhunderts der Tango geboren, der die triste Stimmung jener Menschen spiegelt, die in eine unbekannte Welt geworfen wurden. Hierin liegt eine Wurzel der argentinischen Mentalität, künstlerisch geprägt in Tango-Melodien und legendäre Liedtexte. Der Bomancier und Essayist Ernesto Säbato spricht dabei von einer metaphysischen Grundhaltung im alltäglichen Geschehen.

Eine mythisch anmutende Busfahrt mit dem Sechziger, der sogenannten „Internationalen Verbindung" von Constitution bis zum berühmten Ti-gre Hotel, wo zur Jahrhundertwende die galanten Feste und Bälle auf der Uferpromenade im Delta von Buenos Aires gefeiert wurden, geht quer durch die Geschichte und die sozialen Schichten der zwölf Millionenstadt, einem Schmelztiegel der Weltkulturen. Das Eintauchen in die Urbanen Menschenlandschaften regte den erblindeten Poeten Jorge Luis Borges zu phantastischen Beisen in die versunkene Begion der menschlichen Erinnerung an, zu traumatischen Erlebnisse „und manchmal einem unvergleichlichen Schrecken vor dem, was uns der Tag bereiten kann."

In Buenos Aires gibt es jüdische, arabische, mitteleuropäische und südländische Stadtviertel mit gut erhaltenen Jugendstilbauten inmitten vielfältiger, auch futuristischer Architektur und einigen Fachwerkhäusern. Buenos Aires ist vor allem europäisch geprägt, jedoch ohne die vieltausendjährige Geschichte. Der multikulturelle, kosmopolitische Charakter der Einwanderungsmetropole ist lateinamerikanischer Herkunft.

Der Tango von Buenos Aires ist nicht Nostalgie, sondern das Leben selbst schreibt mit zwischen den Zeilen über entwurzelte und entfremdete Einzelgänger, die vom Verlorensein in der Welt erzählen. In der Philosophie des Tangos hat jeder Augenblick und jeder Mensch eine andere Geschichte.

Die hier entstandenen Biographien sind schon ein Stück Vergangenheit oder Weltgeschichte, wie auch die der später untergetauchten berüchtigten Nazischergen. Oder sie verwandeln sich eben in eine literarische Fiktion auf der Suche nach einer neuen Identität. In diesem Widerspruch liegt eine Tragikomödie der Unvernunft, eine bittere Bealität der Einwanderermetropole Buenos Aires, die wächst und neue Menschen - heute aus Paraguay, Bolivien, Peru und Brasilien - anlockt. Das wirft weitere soziale und kulturelle Fragen auf, die vielleicht im nächsten Jahrtausend beantwortet werden.

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