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Im Land der roten Skipetaren

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VON TITOGRAD, der modernen Hauptstadt Montenegros, führt eine holprige, kaum befahrene Steinstraße durch ein unwegsames Gelände zu den Ufern des schwarzen Skutarisees. Heiß brennt die Sonne auf den mageren, ausgedörrten Boden, der nur mit Disteln bewachsen ist. Hie und da begegnet man noch einem schwerbewaffneten jugoslawischen Wachtposten, der die seltenen Reisenden aufmerksam betrachtet, bis man sich, auf dem Gipfel eines kleinen Hügels angelangt, von einer verwitterten Tafel belehren läßt, daß man die jugoslawische Grenze erreicht hat.

MIT GESPREIZTEN BEINEN steht ein albanischer Soldat, der den Lauf seiner Maschinenpistole auf uns richtet. Wir versuchen mit unseren Pässen aus dem Wagen zu steigen — eine drohende, unmißverständliche Geste des Postens vor uns veranlaßt uns jedoch, sitzen zu bleiben. Und so warten wir eine gute Stunde, während hie und da im Zollhaus daneben ein Telephon klingelt und uns ein aufgeregtes Gesicht am Fenster wiederholt mustert. Der Wachtposten vor uns schreitet nun — nachdem er sich überzeugt hat, daß wir das Auto nicht verlassen würden — gelangweilt einen Rasen vor dem Zollhaus ab, in dessen Mitte weiße Blumen die Worte bilden, die wir später in jedem Ort Albaniens wieder lesen sollten: Laudi Marksizem Leninismit! (Es lebe der Marxismus-Leninismus!)

Endlich — nach stundenlangem Warten — näherte sich uns im Laufschritt vom Ende der Straße ein anderer bewaffneter Soldat; er verlangt unsere Pässe und verschwindet wiederum für lange Zeit im Zollhaus, Schließlich, nachdem er uns ein unverständliches Papier in die Hand drückte, durften wir die Fahrt nach Tirana fortsetzen. Bald erfuhren wir den Sinn und den Grund der langwierigen Zollprozedur: Der albanische Zollbeamte amtiert nur fallweise, hauptberuflich arbeitet er als Schafhirte in einem etliche Kilometer entfernten Dorf. Beim Herannahen von Reisenden wird er telephonisch alarmiert, muß seine zerschlissene Uniform an- ziehen, um dann im Laufschritt dem an der Grenze Wartenden und von einem Soldaten inzwischen in Schach Gehaltenen entgegenzueilen. Gleichzeitig wird von der Polizei ein Wagen angefordert, der dann in kurzem Abstand die Ankömmlinge auf ihrer Fahrt durch Albanien zu verfolgen hat.

Ein alter deutscher Wehrmachtswagen hatte auch unsere „Verfolgung“ übernommen. In einem Abstand von fünfzig Metern folgte er unserem Wagen. Die in ganz Albanien geltende Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 Stundenkilometern erklärt, wieso uns dieses vorsintflutliche Fahrzeug auf den Fersen bleiben konnte. Im übrigen wäre es auch ganz sinnlos gewesen, die Verfolger abzuschütteln, um „inkognito" zu reisen. Benötigt man doch für jede Fahrt außerhalb Tiranas eine sogenannte Sondergenehmigung des Innenministeriums, in der die genaue Route und der Tag der Reise vorgeschrieben sind. Diese „Ley special“ wird von den Polizisten regelmäßig verlangt, so daß es praktisch unmöglich ist, sich ohne Wissen und Bewilligung der Behörden zu bewegen. Auch fällt der Ausländer in Albanien schon durch seine Kleidung auf, und kein Albaner würde es wagen, mit ihm zu sprechen. Einzig und allein die Kinder scheuten sich nicht, ihr Interesse an uns zu zeigen — wo immer wir Station machten, wurden wir von neugierigen Kindern umringt, die mit bewundernden Augen unseren Wagen betrachteten und dann häufig in den Freudenschrei ausbrachen: „Kinezi! Kinezi!“ Anscheinend verbindet die jüngste Generation Albaniens mit dem Wort „chinesisch“ keineswegs nur abstrakte, ideologische Begriffe!

albanisch-chinesischen Kampf gegen den Revisionismus und das Sektierertum. Der „Verräter Tito“ erscheint auf großen Plakaten mit wenigen Abwandlungen als ausgefressener, ordenbestückter Marschall, der gierig nach den Dollarsäckeln amerikanischer Kapitalisten greift. Ähnlich ergeht es Chruschtschow, der ebenfalls als Söldling des Dollarkapitalismus dargestellt wird. Wir versuchten, diese Plakate zu photographieren, und wurden deshalb beinahe verhaftet. Nur durch Gesten, die unsere Liebe zu Enver Hodscha ausdrücken sollten, konnten wir uns retten. Wir holten sein Bild hervor, das wir als Talisman in Albanien immer mit uns führten, und küßten es etliche Male ab, so daß auch die finstere albanische Miliz gerührt wurde und uns freiließ.

Die Präsenz Chinas ist — abgesehen von den erwähnten Spruchbändern — durchaus bescheiden. In Tirana sahen wir nur wenige Chinesen. Die zahlreichen Angehörigen der chinesischen Botschaft treten in der Öffentlichkeit fast nicht in Erscheinung. Wer glaubt, in Albanien chinesische Waren kaufen zu können, der irrt ebenfalls gewaltig. Bis auf handgeschnitzte Zahnstocher,

Parfüm und zarte Sonnenschirme erinnert nichts an den Handel mit China.

Wie die meisten repräsentativen Bauten wurde auch das große Ausländerhotel Tiranas, das Hotel

„Dajti“, während der italienischen Okkupation erbaut: Die schweren Torbögen und marmornen Hallen zeugen noch immer von der kurzlebigen Pracht des italienischen

Faschismus. Dieses seltsame Haus beherbergte zur Zeit unseres Besuches nur vier Gäste, zwei Chinesen, einen Geschäftsmann aus dem Westen und einen asiatischen Diplomaten, der in Tirana keine Wohnung finden konnte. Vergeblich warb das staatliche Reisebüro „Alb- tourist“ mit seinen schönen, verlockenden Prospekten um die Gunst ausländischer Touristen — Totenstille erfüllt alle Räume dieses eigenartigen Palastes, der von einigen Putzfrauen täglich mit karbol- hältigem Insektenpulver reichlich ausgespritzt wird. Bis auf die Kellner des Restaurants sprechen sie alle nur Albanisch, so daß jede Kontaktmöglichkeit von vornherein außerordentlich beschränkt ist. Verlangt man nach dem Dienstmädchen, so erscheinen regelmäßig deren zwei im Zimmer: Zwei ältere Frauen reinigen gleichzeitig die Zimmer, .bringen das Frühstück, holen die Kleider zum Bügeln ab und so weiter. Ob das nur Zufall ist?

EIN ZEHNTEL DER KNAPP eineinhalb Millionen zählenden Bevölkerung des Landes lebt in Tirana. In wenigen Jahren hat sich somit die Einwohnerzahl der Hauptstadt verfünffacht. Neue Stadtteile, nach einem schmucklosen Schema phantasielos zusammengestellt, breiten sich rings um das Zentrum aus, das von einem vier Kilometer langen und überdimensioniert breiten Boulevard gebüdet wird. Dort befinden sich Universität, Museum, Oper, das Hotel „Dajti“, Parlament, Zentralkomitee der Partei, Nationalbank und das alles überragende, große Stalin-Denkmal.

Schwerbewaffnete Soldaten schließen einen ganzen Stadtteil Tiranas — das Wohnviertel Enver Hodschas und seiner Clique — hermetisch von der Umwelt ab. Diese verbotene Stadt darf von niemandem betreten werden. Wer sich zu nahe an den doppelten Militärkordon heranwagt, wird über den Haufen geschossen.

Die Rücksichtslosigkeit, mit der die Kommunisten in Albanien ihr Regime aufgebaut haben, , erkennt der Ausländer nicht zuletzt an den geschändeten Kirchen. So wurde eine große orthodoxe Kirche auf einer Anhöhe bei Tirana in ein öffentliches Restaurant umgewandelt. Wo früher die Ikonostasis und der Altar standen, protzt heute ein Hodscha-Bild über der Schank. Zigarettenrauch durchzieht den von Säulen getragenen dreischiffigen Raum, und wo früher das Evangelium verlesen wurde, singt jetzt eine rauhe Weiberstimme ein monotones Liebeslied herab.

VERGEBLICH VERSUCHT man mit dem Mann auf der Straße ins Gespräch zu kommen. Eine kurze, harmlose Frage wird häufig unbeantwortet gelassen oder mit einer wegwerfenden Handbewegung abgewehrt. Jedermann geht dem

Fremden aus dem Weg und vermeidet jeglichen Kontakt mit ihm. Selbst die wenigen in Tirana wohnhaften Ausländer leben in vollkommener Abgeschiedenheit und Be- ziehungslosigkeit zur einheimischen Bevölkerung.

Die Realität des herrschenden Terrors erfährt man bei einem Spaziergang in die Außenbezirke Tiranas. Dort befindet sich, für jedermann sichtbar, unmittelbar an der Straße das große „Arbeitslager“, das sich von außen durch nichts von einem KZ der Hitlerzeit unterscheidet. Dichter, elektrisch geladener Stacheldraht umzäunt ein großes viereckiges Areal, das von Wachtürmen überragt wird. Kümmerliche Gestalten bewegen sich zwischen den endlos erscheinenden Baracken — man behauptet, es seien zur Zeit im ganzen Land zirka 30.000!

Auch der Albaner, der außerhalb des Stacheldrahtes der Gefängnisse lebt, ist in ein bis ins Letzte reglementiertes, ja militärisiertes System gepreßt.

Von großen Plakatwänden, aus Auslagen, Fenstern und Gebäuden blicken Enver Hodscha und Mehmet Shehu, die glorreichen Führer des Landes, ihrem armseligen Volk entgegen, unverrückbar und unerbittlich als Repräsentanten eines erbarmungswürdigen Schicksals, das sie selbst zu verändern zu ihrem Ziel erklärt haben, p p, 7 i4 .

a- w S

POLITISCH VÖLLIG ENTRECHTET lebt der Durchschnittsalbaner: wirtschaftlich auch heute noch weit unter dem Existenzminimum. Sein Lohn beträgt selten mehr als 4000 Lek monatlich (für einen Dollar erhält man zum Töuristenkurs 125 Lek). Ein Paar Schuhe kostet mindestens 3000 Lek, ein mittelmäßiger Herrenanzug 12.000 Lek, eine Flasche Bier 40 Lek, eine Schnitte Brot 10 Lek, ein kleiner Bund Zwiebel — neben grünem Salat das einzige Gemüse, das gerade am Markt erhältlich war — 18 Lek. Für ein höchst bescheidenes Essen in einem Restaurant muß man mindestens 200 Lek ausgeben! Nur äußerste Anspruchslosigkeit, die seit jeher das albanische Volk ausgezeichnet hat, vermag unter solchen Bedingungen ein dürftiges Leben zu fristen.

Hunger und Entbehrungen geißeln insbesondere seit dem Ausbleiben der Hilfe aus Rußland das Volk der Skipetaren

Der vergangene Winter, der auch in Albanien mit außergewöhnlicher Härte hereingebrochen war, verursachte ungeheure Saatschäden. Das ganze Frühjahr hindurch wurden deshalb größte Anstrengungen unternommen, um die ärgsten Schäden gutzumachen. In einer großen Kampagne schickte die Regierung alle entbehrlichen Arbeitskräfte — Schulkinder, Frauen und zum Teil auch Fabrikarbeiter — zu Feldarbeiten aufs Land. Tatsächlich konnte man so auf weiten Teilen der fruchtbaren albanischen Ebene Tausende von Menschen mit primitivsten Geräten — häufig noch mit Spitzhacke und Holzpflug — zu kollektiver Landarbeit vereinigt sehen — ein eindrucksvolles Bild ungeheurer Anstrengung, um das Lebensnotwendige zu sichern.

UNTER DIESEN UMSTÄNDEN wird die Einhaltung der langfristigen Wirtschaftspläne des Landes unmöglich. Bis zum Bruch mit Moskau war die albanische Volkswirtschaft auf Rußland orientiert. Rußland unterstützte das kleine Land an der Adria, aus dem es eine „kommunistische Schweiz“ machen wollte, wie keinen anderen Satelliten. Albanien, das wirtschaftlich im tiefen, türkischen Mittelalter stand, sollte in kurzer Zeit zu einem modernen Industriestaat werden. Vor den Toren Tiranas empfängt einen das große Textilkombinat „Stalin“, das mit seinen zirka 15.000 Arbeitern den albanischen Markt weitgehend befriedigen kann. Jede Schraube dieser Fabrik stammt aus Rußland, und die Maschinen können nur mit russischen Ersatzteilen erneuert werden. Der vollkommene Stillstand in den Wirtschaftsbeziehungen mit Rußland stellte daher das Funktionieren dieser Fabrik — wie der gesamten jungen albanischen Industrie — in Frage. Denn auch die übrigen kommunistischen Länder, die zwar mit Albanien weiterhin Handel treiben, dürfen nach dem Willen Moskaus keinen der so notwendigen Ersatzteile liefern. Soweit nicht China das Manko beheben kann, ist Albanien hidf auf westliche Partner angewiesen, die nun welch groteske Umständlichkeit—Produktivgüter und Ersatzteile sowjetischer Provenienz zur Verfügung stellen sollen.

Einrichtungen, von denen die ältere Generation noch nie gehört hatte, sind der Jugend bereits selbstverständlich: jedes Kind besucht heute die Volksschule, und eine Anzahl höherer Schulen bildet allmählich eine eigene albanische Intelligenz heran. Außerdem umfaßt ein kostenloser Gesundheitsdienst des Staates heute die ganze Bevölkerung des Landes.

IN SEINEM POLITISCHEN WELTBILD ist der Albaner nur auf die Erfahrungen eines mittelalterlichen, orientalischen Sippen Staates mit seinem blutigen Fehdewesen und eines kurzlebigen Faschismus beschränkt, der sich in der Form der italienischen Besetzung darstellte. So mißt der Albaner Enver Hodschas Terrorsystem sicherlich nach anderen Maßstäben.

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