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Im literarischen Programm bei Walter

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DENNOCH MENSCHEN. Roman von Elio Vittotini. 228 Seiten. Preis 15 DM. — DAS LÖSEGELD. Roman von Giuseppe Dessi. 129 Seiten. Preis 10.80 DM. - DER KANDELABER. Roman von Martin Gregor-Dellin. 224 Seiten. Preis 14.80 DM. - STRAFARBEIT. Roman von Jörg Steiner. 171 Seiten. Preis 13.80 DM. - TEXTBUCH 3. Von Helmut Heißenbüttel. 40 Seiten, Großformat, kartoniert. Preis 10 DM. Sämtliche Bücher im Walter-Verlag, Ölten und Freiburg i. Br.

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DENNOCH MENSCHEN. Roman von Elio Vittotini. 228 Seiten. Preis 15 DM. — DAS LÖSEGELD. Roman von Giuseppe Dessi. 129 Seiten. Preis 10.80 DM. - DER KANDELABER. Roman von Martin Gregor-Dellin. 224 Seiten. Preis 14.80 DM. - STRAFARBEIT. Roman von Jörg Steiner. 171 Seiten. Preis 13.80 DM. - TEXTBUCH 3. Von Helmut Heißenbüttel. 40 Seiten, Großformat, kartoniert. Preis 10 DM. Sämtliche Bücher im Walter-Verlag, Ölten und Freiburg i. Br.

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Der Walter-Verlag gehört heute ohne Zweifel zu den profiliertesten Verlagsunternehmen im deutschen Sprachraum. Qualität, Unternehmungsgeist, Aufgeschlossenheit bis zum Experiment und geschmackvolle und gediegene Ausstattung kennzeichnen sein Programm. Jeder beliebige Querschnitt wird die Bestätigung erbringen. Seit mehreren Jahren betreut der Walter-Verlag das Werk des bedeutenden italienischen Dichters Elio V i 11 o-rini (geboren'1908 in Syracus). Als vierter Band liegt nun der Roman „Dennoch Menschen“ vor, 1945 in Mailand zuerst erschienen, der den Kampf der Resistenza zum Inhalt hat. Es bezeugt die dichterische Qualität, daß es dem Autor, der hier Beteiligter und Berichterstatter ist, gelungen ist, trotz der Unmittelbarkeit des Geschehens und seiner künstlerischen Umsetzung, zu einer so reifen und geklärten Gestaltung zu kommen. Die äußere Handlung ist einfach, fast karg. Terror und Antiterror im Winter 1944 in den Straßen von Mailand. Ein deutscher Offizier wird getötet. Geiseln werden zur Exekution geführt. Auf den Straßen wird geschossen. Tote. Bluthunde werden auf den Mann gedrillt und losgelassen. Männer, die den Kampf aufgenommen haben gegen die Gewalt der Macht, kaum organisiert und mit unzureichenden Mitteln. Und eine Frau, die einen Mann sucht.

Er ist die Hauptgestalt des Romans, aber hat keinen Namen: U 2. Die Frau findet ihn nicht, wohl aber der Tod, der Verrat. Vittorini hat als Übersetzer die italienische Literatur mit den modernen nordamerikanischen Autoren bekanntgemacht und dabei selbst von ihnen gelernt. Dazu verfügt er über eine große Meisterschaft der Dialogführung. Er hat eine Vorliebe zum scheinbar absichtslosen Detail, die nüchtern wirken müßte, hätte er nicht die dichterische Kraft, die auch dem Unscheinbarsten noch die gestaute Intensität eines echten aber unaufdringlichen Pathos zu verleihen weiß. Vittorini erzählt eine einfache Geschichte, aber in seiner Erzählweise wird sie zu einer großen und zur Historie: zur Dichtung vom Menschen, vom Dennoch-Menschen, „Uoinini e no“ heißt der unübersetzbare Originaltitel, der mit Zustimmung des Autors diese deutsche Fassung erhielt. Die wohlgelungene Übersetzung stammt von Adolf Sager und Arianna Giachi.

Das dichterische Vermögen, Geschehnisse der gegenwärtigen Welt zu einer fast mythischen Überhöhung zu steigern, zeichnet auch den Roman „Das Lösegeld“ von Giuseppe Dessi aus (1961 mit dem „Premio Bagutta“ ausgezeichnet). Es ist die Geschichte einer Desertion; nicht recht verständlich, warum die Übersetzer, Yvonne und Herbert Meier, die eine gute und schöne deutsche Übertragung geliefert haben, den italienischen Titel: „II Disertore“ nicht beibehalten haben. Dessi ist Sarde und siedelt seine Geschichte einer nie an die Öffentlichkeit gedrungenen Desertion ganz in der Landschaft und unter den Menschen seiner Heimat an. Bei der Sammlung für die Errichtung eines Kriegerdenkmals wird dieses Schicksal in der Erinnerung zweier Menschen wieder wach: in der der Mutter und in der des Ortspriesters. Fünf Tage nur hat der Flüchtling auf der Insel zugebracht, bis er am Fieber starb; versteckt von seiner Mutter, freigesprochen, nach der

Beichte, vom Priester. Der unbeirrbaren Sicherheit der Mutter stehen die noch immer nicht zum Schweigen gekommenen Gewissenszweifel des Seelsorgers gegenüber. Die Bedeutsamkeit des Romans liegt neben der Darstellung der Menschen, die, schlicht und einfach (hier wortwörtlicn) meisterlich ist, in der Tatsache, daß hier ein Buch über den Krieg geschrieben wurde, das zwischen den Kriegen spielt. Die Desertion erfolgte im ersten Weltkrieg, die Spendensammlung für das Kriegerdenkmal in der Zeit des aufziehenden hschismus. Am Mahnmal der Vergangenheit, die bereits als Schlagwort in fcr-sefteinung tritt, zeichnet sich die noch schrecklichere Zukunft schon ab. Ebenso präzis und historisch wie gültig und wesentlich wird hier am Beispiel eines sar-dischen Hirten und seines Dorfes Nachkriegszeit als Zwischenkriegszeit entlarvt.

„Das andere Deutschland“ ist der Schauplatz des Romans „Der Kandelaber“, des zweiten Romans des 1958 aus Ostdeutschland in die Bundesrepublik geflohenen, heute siebenunddreißigjährigen H

Tutors Martin Gregor-Dellin. Was dieses Buch vor vielen ähnlichen auszeichnet, ist eben seiner stofflichen und psychologischen Stichhältigkeit die vollzogene dichterische Umsetzung. Dadurch wird iic Geschichte des Studienrates Blumentritt, der als Gymnasialprofessor einer nittelgroßen Stadt die Gesetze der Vorsicht verletzt, in das Getriebe des Staates gerät, und aus einem Individualisten zu :inem nur mehr automatisch weiterlebenden Wrack gemacht wird, weit mehr als ein „Bericht aus der Zone“: Es ist die Erhellung menschlicher Wirklichkeits-;rfahrung und Wahrheit in bezug auf die Politik.

Ein Bürger beantragt die Entfernung :ines einst als Galgen gebrauchten Kande-abers vor seinem Fenster. Damit macht :r sich verdächtig, und die Maschinerie letzt sich mit der Konsequenz einer ichicksalstragödie in Bewegung.

Formal und sprachlich enthält sich der Vutor des gewollt Modernen, und doch rollzieht sich in den scharfgezeichneten Dcnkbildern, in der Ironie und Aggressivität der Wiederholung eine zunehmend leklemmende Verfremdung der Wirklich-ceit, wie wir sie ähnlich auch erlebt laben und wie Kafka sie literarisch vor-veggenommen hat; selbst von der Dingveit noch scheint Bedrohung auszugehen.

Jörg Steiners Roman, „Strafarbei t“, st ein Erstlingswerk. Sein Held ist ein jun-;er Mensch, der zur Beobachtung in die Erziehungsanstalt eingeliefert wird und dort iie Geschichte einer Flucht schreibt, die loch keinem geglückt ist, von ihm aber ils Erleben in sich getragen wird. Der Vornan ist ein Gleichnis der Bedrohung les Menschen, die ihm gleicherweise aus ler Realität wie aus der Vision erwachsen ann. Krasse Realistik, entnommen der 'eitsituation und ihren mannigfaltigen Möglichkeiten der geistigen und seelischen rolterung, und wildwuchernde Phantasmagorien einer unformulierbaren Sehnsucht wollen nicht recht zu einer Einheit wachsen. Stoff und Sprache haben den Autor überwältigt; er ist selbst so etwas wie der Gefangene seines Romans und die „Strafarbeit“ nur eine Anzahlung auf eine literarische Existenz als Romanschriftsteller.

„Ich neige in gewisser Weise immer mehr dazu, diese Dinge weder als Gedichte noch als Texte zu bezeichnen, sondern als Demonstrationen“, schrieb 1961 Helmut Heißenbüttel über seine Experimente mit der Sprache, die es ermöglichen sollen, „alles aufzunehmen, sowohl das Subjektivste wie das Allgemeine, das Politische“. Vielleicht ist ihm sogar in seinem „Gedicht von der Übung zu sterben“, das den Abschluß seines „Textbuch 3“ bildet, gelungen, das zu verwirklichen. Die Lösbarkeit seiner verschlungenen Assoziationsfolgen durch den Leser allerdings ist ein anderes. Ein Schlüssel dazu liegt in der Kontinuität seiner Demonstrationen, schon seit den frühen Anfängen her. Heißenbüttel schreibt ohne Satzzeichen; das Wort, der Satz, Satzmöglichkeiten, befinden sich gleichsam in Rotation. „Serielle Schleudertechnik“ hat Kurt Leonhard dieses Verfahren bezeichnet. Die urtümlichen, syntaktischen Bindungen sind — grammatikalisch — einer Vielfalt von Variationsmöglichkeiten und — geistig — einer Ambivalenz der Deutung gewichen. Für Heißenbüttel beruht die Erkennbarkeit der Welt, die Orientierungsmöglichkeit des Menschen, auf der Fiktion, „es gäbe etwas, das, in sich ruhend, Mittelpunkt bilde, etwas anderes, das dem gegenüberstehe —“ Und mit der Infragestellung dieser Fiktion „folgt daraus notwendigerweise, daß ich, wenn ich konsequent bin, jeden Satz, den ich sage, schon sofort wieder in Frage stellen muß“. Das Wort selbst tastet Heißenbüttel nicht an, degradiert es nicht zu Material, Wortstaub oder Lautform. Doch ist ihm die Sicherheit eindeutiger Orientierung verlorengegangen, die er im Sprachbereich nachzuzeichnen und damit sichtbar zu machen sucht. Seine Arbeiten sind weniger Poesie als chiffrierte — oder seilte man in der Art Heißenbüttels richtiger sagen: dechiffrierte? — Zeit.

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