Im Malstrom der Realitäten - © iStock/Hotaik Sung

Im Malstrom der Realitäten

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Eine Höllenfahrt durch reale und geistige Labyrinthe: Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth erweitert seinen Romankosmos und legt den zweiten Teil einer Venedig-Trilogie vor.

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Eine Höllenfahrt durch reale und geistige Labyrinthe: Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth erweitert seinen Romankosmos und legt den zweiten Teil einer Venedig-Trilogie vor.

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„Er verließ das Vaporetto vor dem Markusplatz. Dort spürte er, dass sich der Wind verstärkt hatte.“ Nach seinem Doppelzyklus „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“ erweitert Gerhard Roth seinen gewaltigen Romankosmos um eine Venedig-Trilogie. Den Auftakt bildete 2017 „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“, nun liegt der inhaltlich eigenständige Folgeband vor: „Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier“. Der bombastische Titel, ein Zitat aus Shakespeares Stück „Der Sturm“, kündet von aufziehendem Unheil. Geeichte Gerhard-Roth-Leser machen sich auf eine Höllenfahrt durch reale und geistige Labyrinthe gefasst. Und tatsächlich erwartet sie ein Reigen an Déjà-lus: Wieder einmal wandern wir durch Archive, Museen, Friedhöfe, Psychiatrien, durch private Kuriositätenkabinette und Laboratorien, durch eine Welt voller Zeichen, Traumfragmente, Erinnerungssplitter und „Zufallsbilder“. All dies ist noch durchwirkt von mythologischen Bezügen, von Meditationen über Zeit und Tod, von Exkursen in die Naturwissenschaften und Religionen, in die Historie, die Literatur- und Kunstgeschichte. Auch das Personal entspricht der üblichen Roth’schen Besetzung. Dazu gehören der Typus des eigenwilligen Privatgelehrten (mit Allwissenheitsanspruch), der Imker, der Migrant, der Antiquar, der Altertums-, Sprach- und der Vogelexperte, die verführerische Frau, der verlorene Held. Und immer wieder der Autor selbst, ob in Gestalt eines Alter Ego oder auch nur als Facette einer Figur. Ein altbekannter „Bausatz“ also – für eine nächste Etüde des Verschwindens, ein x-tes Verwirrspiel um Traum, Wahn und Wirklichkeit, um die Vielgestalt von Gut und Böse.

Vom Promeneur zum Gejagten

Emil Lanz, der Held von „Die Hölle ist leer“, ist Übersetzer und lebt nach dem Unfalltod seiner Frau in einer Villa am Lido. Als Promeneur Solitaire sammelt er Muscheln und Strandgut – und sinniert über sein „versäumtes“ Leben. Dem will er nun ein Ende setzen, nicht aus Verzweiflung, sondern aus Leere und Gleichgültigkeit. Kein dramatischer Abgang sollte es werden: „Er beabsichtigte nur, einfach zu verschwinden.“ Kurz noch befällt ihn, als er am Strand die Leiche eines Flüchtlingskindes entdeckt, eine Art Scham ob seines Lebensüberdrusses. Doch der Entschluss ist gefasst, der Ort für den Suizid gewählt. Lanz fährt auf die Insel Torcello, betrinkt sich – und wird, just als er sich die Pistole ansetzt, Augenzeuge eines Mordes. Oder hat er sich doch erschossen und erlebt alles aus einer jenseitigen Perspektive? Immer tiefer gerät er in einen Malstrom, und wiederholt an die Grenzen seines Verstandes.

Wieder einmal wandern
wir durch Archive, Museen,
Friedhöfe, Psychiatrien, durch
private Kuriositätenkabinette
und Laboratorien.

Nunmehr zur Zielscheibe rivalisierender Clans aus dem Menschenhandels- und Glücksspielmilieu geworden, läuft der Lebensmüde plötzlich um sein Leben. Dafür spult Roth das ganze Programm des Kriminalgenres ab: Verfolgungsjagden, Überfälle, Brandanschläge, Tarn- und Täuschmanöver (in der Serenissima darf auch ein Maskenmann nicht fehlen). Wird selbst der Verfolgte zum Täter? Zugleich setzt der Autor eine bizarre Riege an Lanz-Rettern in Gang, über deren wahre Rolle keineswegs immer Klarheit herrscht. Da wäre etwa der Falkner mit dem sprechenden Namen Richard Vogel, der Möwen aus Friedhöfen vertreibt; dann der Imker Janca (ein „sehender“ Blinder), ferner die Astronomin Caecilia Sereno und die Fotografin Julia. All diese „Helfer“ erweisen sich als Erfüllungsgehilfen von Egon Blanc.

Blanc ist Lanzens Nachbar: ein mysteriöser Krösus, studierter Archäologe, Büchernarr, privater Schrift- und Sprachforscher. Seine Villa auf dem Gelände eines ehemaligen Luna-Parks hat er zu einem „Multiversum“ ausgebaut, wo er den Entsprechungen von Makro- und Mikrokosmos nachspürt. In seinem Planetarium experimentiert er mit Computerprogrammen; so kann er jeden beliebigen Flecken der Erde heranzoomen, durch jede Mauer blicken. Ein Globenzimmer besitzt er auch, dessen Boden und Plafond aus Hunderten von Glasaugen bestehen. Das alles zeigt Blanc seinem Besucher Lanz und entschuldigt sich ganz nebenbei dafür, ihn – absichtslos – niedergefahren zu haben. Dafür und für anderes erlittenes Ungemach entschädigt er den Übersetzer fürstlich.

Der Schein der Authentizität

Egon Blanc ist der große Fädenzieher. Und ein aalglatter Manipulator. Einst trat er als Hypnotiseur auf, nun will er als High-Tech- Magier sogar auf die Erinnerungen von Toten zugreifen. Das macht ihn zu einer noch teuflischeren Figur als die ganze Clique an Kriminellen, die eine Blutspur durch Roths Venedig zieht – eine Topografie, die dem Autor durch viele Aufenthalte vertraut ist. Die Beschreibung der realen Plätze erzeugt allerdings nur eine Schein- Authentizität: Leitmotivisch kehrt das Wort Lügengeschichte wieder. Die eine Realität – auch dies ein Roth’sches Mantra –, die gibt es nicht. „Sie dürfen nicht glauben, dass alles, was Sie sehen und erfahren, schon die Wirklichkeit ist“, sagt Blanc, der Unfassliche: Kaum ist er da, ist er auch schon wieder weg. In Madrid? In der Psychiatrie am Lido? Auf dem Mont Blanc? – Signor Blanc trägt das Weiß in seinem Namen, seine Weste aber spielt alle Farben. Und so dreht Gerhard Roth seinen Zauberwürfel weiter und weiter. Mag die Magie seines überbordenden Rätsel-Universums diesmal auch etwas schwächeln, so warten wir dennoch gespannt auf Teil drei der Trilogie.

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