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Im Nervenzentrum der Polizei

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ZWEIHUNDERT ANRUFE PRO TAG. Meistens über hundert Einsätze. Die zwanzig Streifenwagen der Wiener Polizei, die Tag und Nacht in Wien im Einsatz stehen, sind den Anforderungen der Großstadt mit ihrem weiterhin zunehmenden Verkehr gerade noch gewachsen. Fünf Wagen waren es vor zehn Jahren, als die Funkstreife in Wien noöh eine Neuheit war, und durchschnittlich 28 Einsätze wurden damals im Tag durchgeführt. Voriges Jahr wurde bereits der zweihunderttausendste Einsatz seit der Gründung feierlich in das Journalbuch eingetragen.

200.000 Einsätze...

Unfälle. Explosionen. Einbrüche. Messerstechereien. Schießereien.

Und dazwischen immer wieder harmlose Episoden.

DIPLOMAT MUSS ER SEIN, der Mann am Apparat. Und er muß entscheiden können, wann man eingreifen muß. Vor zwei Stunden war die Schule aus, und das Kind hat keine Freunde oder Verwandten, bei denen es sich aufhalten könnte? Sofort wird dem Streifenwagen in dem betreffenden Bezirk ein Tip gegeben — haltet doch die Augen offen! Viele Kinder wurden bereits von der Funkstreife heimgebracht. Niemand hat sie gezählt, schließlich ist ja nichts passiert.

Der Wachmann ist in Wien längst kein Kinderschreck mehr. Viele Eltern haben eingesehen, wie gefährlich es ist, wenn sich ihr Kind vor dem Mann in Uniform fürchtet, statt sich im Notfall hilfesuchend an ihn zu wenden. Noch besser, wenn Kinder die Nummer 133 auswendig wissen, stets einen Schilling bei sich haben und den Münzapparat richtig bedienen können.

Unpopulär hingegen sind in Wien noch immer die Notrufsäulen, die man beim Schottentor, in der Agnesgasse, in der Buxbaumgasse und auf dem Praterstern montiert hat, und von denen man den Polizeinotruf ohne Geldeinwurf und ohne Num-mernwählen sofort erreicht. So bemüht man sich, daß man in ganz Österreich, gleichgültig in welcher Stadt, durch Wählen der Nummer 133 mit dem jeweils zuständigen Polizeinotruf verbunden wird. Vorläufig ist es erst in einem Teil des Bundesgebiet soweit.

IN WIEN SITZEN DIE MÄNNER vom Polizeinotruf in zwei kleinen Zimmern im Polizeipräsidium auf dem Parkring. Die Geräte, die sie bedienen, sehen zum Teil vorsintflutlich aus, manches dürfte noch aus den dreißiger Jahren stammen. Alt, aber zweckmäßig — mit diesen Worten läßt sich die Einrichtung der Notrufzentrale am treffendsten beschreiben.

Immerhin können vier Menschen gleichzeitig mit dem Notruf sprechen. Auf den Tischen mit dem altertümlichen Klappenschrank herrscht Gedränge: ein rundes Dutzend von Telefonapparaten, . auf denen weitere Gespräche entgegengenommen werden, wenn ein Hilferuf ertönt, während der Beamte am Klappenschrank noch mit jemandem spricht. Apparate, von denen direkte Leitungen zur Rettung, zur Feuerwehr, zum Bereitschaftskommando und zu anderen wichtigen Stellen führen.

Eine kurze Kurbeldrehung — und man wird mit dem Wächter in der Schatzkammer verbunden. Was immer dann nötig ist, wenn die Alarmklingel mit der Aufschrift „Schatzkammer“ losrattert. Sie alarmiert automatisch die Polizei, wenn in den Räumen der Schatzkammer die Temperatur plötzlich steigt oder auch nur eine verhältnismäßig geringe Erschütterung die Luft in einem der Säle in Bewegung bringt. Einbruchsversuch — zwecklos...

„HILFE! MORD!“ „Was ist denn gesche...“

Zu spät. Die Anruferin hat den Hörer bereits aufgelegt. Doch Sekunden vorher hat der Beamte, der den Notruf entgegengenommen hat, eine kleine rote Taste an seinem Apparat niedergedrückt.

Es handelt sich hier um die sogenannte Fangtaste. Wird sie gedrückt, so wird die Verbindung mit dem Anrufer nicht unterbrochen, wenn er den Hörer einhängt. Ein Anruf der Polizei bei der Post, wenige Minuten Wartezeit, dann steht fest: Der Ruf kam aus einem bestimmten Haus im zweiten Bezirk.

Der Mann steht auf, geht, einen kleinen Zettel in der Hand, durch die stets offenstehende Tür in den Nebenraum — der ist noch etwas kleiner, dafür hat hier auch nur ein Beamter zu tun. Unter der Glasplatte seines Tisches liegt ein großer Plan von Wien. Vor ihm: ein praktisches, kleines Mikrophon, ein Lautsprechergehäuse, ein Telefonhörer.

Sekunden später wird halblaut in das Mikrophon gesprochen: „Funkstelle an Berta, Einsatz, fahren Sie in die ... gasse, Sie werden erwartet!“

Wiederum vergehen nur Sekunden, dann tönt es aus dem Lautsprecher auf dem Tisch: „Berta an Funkstelle, verstanden!“

Sie sind Kummer gewöhnt. Sie alarmieren keineswegs sofort die Rettung und jagen auch nicht die Mordkommission in jenes Haus, wenn eine verstörte Stimme etwas von einem Mord murmelt oder wenn es schrill aus dem Hörer gellt: „Hilfe, etwas Schreckliches ist geschehen!“

Vielleicht ein kleiner Ehekrach. Vielleicht eine Rauferei in einem Wirtshaus.

Die Besatzung des Funkwagens Berta findet eine aufgeregte Frau vor, die ihnen händeringend erklärt, ihr Mann sei zweifellos ermordet worden, denn der Schlüssel stecke innen, doch der Mann öffne nicht auf ihr Klopfen.

Einer der Polizisten stößt geschickt von außen den Schlüssel aus dem Schloß und öffnet. Der Herr des Hauses fährt, von einem Polizisten höflich geweckt, aus dem Schlaf. Wo er sich doch eben erst niedergelegt und ein Sdhlafpulver genommen hat...

Die Wiener Funkstreife registriert Tag für Tag solche Fälle.

JEDER ANRUF KANN EIN ERNSTER ANRUF sein, bei dem es auf Tod und Leben geht. Daher gibt es hier kein Tonband mit der freundlichen Aufforderung „Bitte gedulden Sie sich ein wenig, alle Leitungen sind besetzt...“ Hier wird in Bruchteilen von Sekunden abgehoben und in Sekunden entschieden, was geschehen soll.

Kurz nach Mitternacht. Ein lautes Klingeln schreckt die Leute auf der Straße auf. Über dem Portal einer Sparkassenzentrale hat es in einem kleinen grauen Kasten zu klingeln begonnen, und es hört nicht mehr auf. Ein Polizist eilt herbei, besieht sich die Sache und öffnet dann einen versperrten Metallschrank auf der anderen Straßenseite. Er enthält ein Telefon. Und wiederum tönt es Sekunden später aus den Funkgeräten aller Streifenwagen: „Funkstelle an Anton, Einsatz!“

Sicher ein Fehlalarm, wie so oft. Echte Bankalarme waren immer eine Rarität und sind es noch. Trotzdem greift im selben Augenblick, in dem der Sprecher den Einsatzbefehl an die Funkstreife in das Mikrophon sagt, im Nebenraum — dort, wo der altertümliche Ver-mittlungssohrank steht — ein weiterer Beamter zum Telefon. Er braucht nicht zu wählen. Er drückt nur auf einen Knopf und ist mit dem Einsatzkommando verbunden.

Fast gleichzeitig mit der Funkstreife treffen die Männer mit den Stahlhelmen, den Scheinwerfern, dem auf das Spurensuchen dressierten Hund vor dem Bankgebäude ein. Waffen bekommt man vorerst nicht zu sehen. Kein Dieb weit und breit. Ein Beamter vom zuständigen Wachzimmer ersaheint mit den beiden Tresorsohlüsseln, die dort in einer versperrten Kassette liegen, der aus dem Schlaf gerissene Bankdirektor bringt den dritten Schlüssel, erst dann ist es möglich, den Tresorraum zu öffnen. Und den Übeltäter zu stellen. Ein Ventilator, der nach einem Rohrbruch eingedrungene Feuchtigkeit beheben soll, hat die außerordentlich empfindsame Alarmanlage ausgelöst. Doch lieber hundert Alarme zuviel als einer zuwenig.

MANCHMAL STÖHNEN DIE BEAMTEN EIN WENIG, wenn sie wegen ausgesprochener Lächerlichkeiten gerufen v/erden. Doch sie atmen erleichtert auf, wenn sich herausstellt, daß nichts geschehen ist

Der Dezember bringt Jahr für Jahr eine arbeitsreiche Zeit. Ein bedeutendes Ansteigen der ernsten Einsätze. Vor allem der Verkehrsunfälle. Im Februar können sie sich etwas ausruhen, er ist — trotz Fasching — für sie die ruhigste Zeit. Dafür geht es im Sommer wieder los. Und an der Wende Juni/Juli erreicht die Belastung der Funkstreifenmänner Jahr für Jahr einen Höhepunkt. Niemand weiß, warum ausgerechnet in dieser Zeit.

Kein Wunder, wenn die anonyme Stimme, die sich meldet, wenn man die Rufnummer 133 gewählt hat, in bestimmten Fällen unhöflich Wird. Etwa wenn jemand wissen will, wie das Match im Stadion ausgegangen ist. Oder wenn sich nachts eine weibliche Stimme meldet und erklärt: „Idh kann nicht einschlafen, bitte erzählen Sie mir was!“ Derlei Zwischenfälle kommen leider immer wieder vor!

Folgendes Gespräch spielte sich, spielt sich immer wieder ab: „Wo sind Sie? . . . Ja, aber wo ist Ihr Wohnhaus? . . . Gut, aber wie heißt denn die Straße? ... Ich sage die Straße! Wie die Straße heißt! Mit der Hausnummer allein kann idh nichts anfangen! . . . Bitte etwas langsamer, also warum können Sie nicht in die Wohnung? ... Schön, aber was hat das damit... Wer hat den Schlüssel? ... Und wo liegt der andere Schlüssel? ... Also schön, wir kommen!“

Kein Zweifel, Funkstreife und Polizeinotruf sind in Wien populär.

DAS ALLES ARBEITET ohne großen sichtbaren technischen Aufwand. Der bleibt hinter den Kulissen verborgen. Keine Funkgeräte in der Notrufzentrale. Keine Skalen, keine Drehknöpfe. Der Sender steht oben auf der Jubiläumswarte, und alles geht automatisch. Ein Knopfdruck — die Verbindung zu den Wagen ist in einer kürzeren Zeit hergestellt, als der, die man benötigt, um die Nummer 133 zu wählen.

Vor zehn Jahren noch, da alarmierte man den Notruf, da rief sodann der Notruf seinerseits beim zuständigen Wachzimmer an, da zog sich, im Winter jedenfalls, ein Polizist den Mantel an, schnallte sich, bereits laufend, den Leihriemen mit der Pistolentasche um, und selbst wenn er sich noch so beeilte, vergingen kostbare Minuten. Und wenn er in einem schwierigen Fall Verstärkung brauchte, dann hatte er erst einmal einen Telefonapparat zu suchen und das Bereitschafts- oder Unfallkommando anzurufen, das in der Roßauer Kaserne bereitstand.

Heute sind Funkwagen überall in der Stadt unterwegs. Manchmal sind sie schon zur Stelle, bevor der Anrufer den Hörer aus der Hand gelegt hat.

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